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Berlin: Bevor es zu spät ist: Neues Konzept gegen Vernachlässigung: Hebammen sollen Familien helfen

Neues Konzept gegen Vernachlässigung: Mütter sollen schon vor der Geburt beraten werden

Schlaflose Nächte kennen sie alle. Immer, wenn eine der Hebammen mal wieder in eine Familie geraten ist, wo so vieles gar nicht zu stimmen scheint. Weil die Mutter so jung ist, der Vater trinkt, die Wohnung feucht und die Perspektive trostlos ist. Acht Wochen bleibt den Hebammen dann, die Eltern zwischen Wickeltisch und Nuckelflasche davon zu überzeugen, dass das Jugendamt der Familie helfen könnte – nicht immer mit Erfolg. „Viele haben riesige Angst, dass ihnen das Kind weggenommen wird“, sagt Ulrike von Haldenwang, seit 17 Jahren Hebamme in Kreuzberg. Um früher wirksamer eingreifen zu können, setzt ihr Verband jetzt auf ein neues Angebot: die Familienhebamme. Die ersten zehn Berliner Hebammen haben im Kreuzberger Erkelenzdamm kürzlich mit der Zusatzausbildung begonnen.

Erst am Freitag ist wieder ein extremer Fall von Vernachlässigung bekannt geworden: Die Polizei fand im Märkischen Viertel sechs Kinder und Jugendliche in einer völlig verwahrlosten Wohnung, zwischen Müll, Schimmel und Hundeexkrementen. Allein in der zweiten Januarhälfte waren bereits vier ähnliche Fälle in Marzahn, Mitte und Spandau bekannt geworden. Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, beobachten die Hebammen täglich bei ihren Hausbesuchen. Und von Haldenwang ist sich sicher: „Dieses Problem wird sich noch verschärfen.“ Grundsätzlich hat jede Frau den Anspruch, sich acht Wochen nach der Geburt von einer Hebamme unterstützen zu lassen. Weigert sich aber eine Problemfamilie, zum Jugendamt zu gehen, bleibt den Hebammen nur die Hoffnung, dass alles gut gehen wird. Denn das Jugendamt dürfen die Frauen nur benachrichtigen, wenn es konkrete Anzeichen dafür gibt, dass das Kindeswohl gefährdet ist.

Dennis, Jessica, Kevin – das sind nur ein paar Namen von Kindern, für die jede Hilfe zu spät kam. Politiker haben danach den verstärkten Einsatz von Familienhebammen gefordert. Wie etwa Bundesministerin Ursula von der Leyen (CDU), Berlins Senatorin Heidi Knake-Werner (PDS) und der hiesige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedbert Pflüger.

Deutschlands erste Familienhebamme hat bereits 1980 in Bremen ihre Arbeit aufgenommen, seitdem zogen Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein nach. Zu den Aufgaben der Familienhebammen gehört es, problembeladene Mütter bereits in der Schwangerschaft zu begleiten und der Familie während des ersten Lebensjahres mit Rat weiter zur Seite zu stehen. Der Vorteil: Die Hebammen werden von den Familien als Helfer akzeptiert und nicht als Kontrolleure empfunden. „Wir müssen unsere besondere Vertrauensstellung besser ausnutzen“, sagt von Haldenwang.

Die Hebammen künftig verstärkt einzubeziehen, sieht auch das Konzept „Netzwerk Kinderschutz“ vor, das der Senat entwickelt hat. Bevor es umgesetzt werden kann, müssen noch der Rat der Bürgermeister und das Abgeordnetenhaus zustimmen. Für von Haldenwang ist das Konzept ein Schritt in die richtige Richtung. „Es ist wichtig, dass wir uns alle besser vernetzen", sagt die Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes. Es geschehe noch zu oft, dass Vernachlässigung und Misshandlungen „von Kinderärzten nicht erkannt“ werden oder notwendige Hilfen „in Ämtern versanden“.

Die Idee, auch in Berlin bald Familienhebammen für ein ganzes Jahr einzusetzen, gilt als umstritten. Der Bundesverband der Kinderärzte beispielsweise glaubt, dass Sozialarbeiter für die Betreuung der Hochrisiko-Familien besser qualifiziert seien. Hinzu komme, dass die Hebammen in Berlin derzeit nur knapp 70 Prozent der Familien erreichen – und von den Problemfamilien sogar nur 20 Prozent. Andere Bundesländer haben mit den Familienhebammen offenbar gute Erfahrungen gesammelt und bauen ihr Angebot aus.

Im Juni sollen dann in Berlin die ersten Familienhebammen ausgebildet und reif für die Praxis sein. Noch ist offen, ob diese dann beim Land Berlin, in den Bezirken oder bei einem freien Träger angegliedert werden sollen. Als festes Einsatzgebiet kämen ohnehin nur ausgewählte Stadtteile in Betracht, sagt von Haldenwang. Denn in einigen der ärmsten Bezirke haben die Kinder- und Gesundheitsdienste gemeinsam mit so genannten Kinderkrankenschwestern bereits vor Jahren eine ähnlich angelegte Begleitung der Problemfamilien eingerichtet. Doch in anderen Gegenden gebe es noch viel zu tun. „Anbieten würden sich Wedding, Marzahn und Hohenschönhausen in genannter Reihenfolge“, steht im Konzept der Hebammen. Es mag Zufall sein: Doch die meisten vernachlässigten Kinder hat die Polizei zuletzt in Marzahn und Wedding gefunden.

Kindheit zwischen Müll und Schimmel Kinder in Not. Die Kindergesundheitsdienste bearbeiteten 2005 insgesamt 856 Fälle mit Verdacht auf „Kindeswohlgefährdung“ – dazu gehörten 643 Fälle von Vernachlässigung. Allein im Januar deckte die Polizei fünf Fälle auf, bei denen Kinder und Jugendliche in völlig verwahrlosten Wohnungen lebten.

Tendenz steigend. Die Zahl der registrierten Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung steigt seit Jahren. Auch für 2006 rechnet die Polizei mit einer „deutlichen Zunahme“. Laut Experten ist die Steigerung vor allem darauf zurückzuführen, dass die Öffentlichkeit sensibler geworden ist und öfter Hinweise von Nachbarn und Erziehern eingingen. Die Polizei hat dafür ein Telefon geschaltet unter 4664 912 555. kf

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