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Jeden Tag Ukrainekrieg, jeden Tag Bombardements und neue Opfer.

© dpa / dpa/Evgeniy Maloletka

Wie viele schlechte Nachrichten verträgt der Mensch?: „Sich phasenweise aus dem Nachrichten-Karussell auszuklingen, macht Ressourcen frei“

Im Dauerfeuer aus News, Messages und Benachrichtigungen. Ein Gespräch mit dem Medienpsychologen Leonard Reinecke


Selbst „Tagesschau“-Ikone Dagmar Berghoff versucht sich vor zu vielen schlechten Nachrichten zu schützen. „Auch zu meiner Zeit gab es viele Horrormeldungen. Jetzt sind sie gerade sehr gedrängt“, sagte sie dem „Senioren-Ratgeber“. Wenn heute eine Überschrift mit einem Fragezeichen ende, lese sie nicht mehr weiter, so Berghoff. So wolle sie sich vor zu vielen negativen Nachrichten und Spekulationen schützen. Berghoff ist mit ihrer Haltung nicht alleine, mehr und mehr Menschen, so scheint, flüchten vor negativen Nachrichten. Dazu ein Gespräch mit dem Medienpsychologen Leonard Reinecke, der als Professor am Institut für Publizistik der Universität Mainz arbeitet.

Lieber Herr Reinecke, die TV-Jahresrückblicke Ende 2022 hatten deutlich weniger Zuschauer als noch im Jahr 2021. Könnte es sein, dass die Menschen an dieses „annus horribilis“ 2022 nicht permanent erinnert werden wollen?
TV-Jahresrückblicke sind ja weniger ein Informationsangebot, sondern in erster Linie ein Unterhaltungsformat, das von einer mehr oder minder launigen und nostalgischen Melange aus den Höhen und Tiefen des vergangenen Jahres, Promi-Stimmen und Einzelschicksalen lebt. In der Tat hat diese Mischung angesichts der wenig erbaulichen News-Lage in 2022 für viele Zuschauerinnen und Zuschauer offenbar deutlich an Reiz verloren. Teil der Wahrheit ist aber auch, dass die TV-Jahresrückblicke einiger Sender schon seit mehreren Jahren mit sinkenden Quoten zu kämpfen haben. Vielleicht hat das Format also einfach auch generell seinen Zenit überschritten.

News gehören zum Medienmenü

Aber auch die „Tagesschau“ hat an Zuspruch verloren. Lässt sich denn bestimmen, wie viele Menschen an News-Müdigkeit leiden? Steigt die Zahl, fällt sie?
Nachrichten gehören nach wie vor zum festen Medien-Menü der Deutschen. Ein allgemeiner Trend der News-Abkehr oder des verringerten Interesses an Nachrichten lässt sich nicht erkennen. Auch die in der Corona-Pandemie temporär deutlich gesteigerte Mediennutzung zeigt eindrücklich, dass Menschen insbesondere in schwierigen und bedrohlichen Situationen ein Orientierungs- und Informationsbedürfnis haben, das von Nachrichten bedient wird. Insbesondere dann, wenn negative Themen – die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Energiepreiskrise – die Nachrichten über längere Zeit dominieren, kann es aber zu einer gewissen Themen-Müdigkeit kommen.

Führt also insbesondere die Negativität der aktuellen Nachrichtenlage zu einer Themen-Verdrossenheit?
Das ist sicher ein zentraler Faktor. „Schlechte“ Nachrichten gehören zwar selbstverständlich zum Alltag und sind für uns nichts Neues – Krisen, Kriege und Katastrophen vollziehen sich schließlich leider ständig irgendwo auf der Welt. Eine solche Vielzahl negativer Ereignisse, wie wir sie derzeit erleben und die für die Menschen in Deutschland von so unmittelbarer, persönlicher Bedeutung sind, ist aber in jedem Fall ungewöhnlich und wird von vielen Menschen sicher als sehr belastend wahrgenommen.

Sehen Sie weitere Faktoren, die zu einem gewissen Nachrichten-Überdruss beitragen? 
Sowohl die Nachrichtenproduktion als auch die Nachrichtennutzung haben sich durch soziale Medien und mobiles Internet stark gewandelt. Durch diese neuen technischen Möglichkeiten herrscht in den Redaktionen starker Aktualitätsdruck: Nachrichten werden immer schneller produziert und über immer mehr Kanäle distribuiert. Dieser Newsstrom trifft auf Nutzerinnen und Nutzer, die durch Smartphones und Social Media „always on“ und somit quasi permanent einem Dauerfeuer aus News, Messages und Benachrichtigungen ausgesetzt sind.

Was sind die wesentlichen Konsequenzen eines übermäßigen solchen permanenten Medienkonsums?
Die schiere Masse an Nachrichten und Medieninhalten, die auf sie niedergeht, wird von vielen Nutzerinnen und Nutzern als herausfordernd und ermüdend wahrgenommen. Gleichzeitig leidet die persönliche Autonomie: war Mediennutzung früher eine mehr oder weniger aktive Form der Zuwendung, bedarf es heute der aktiven Entscheidung, sich „auszuklinken“ und zumindest temporär für Kommunikation und Medieninhalte nicht erreichbar zu sein. Häufig wird dies als gewisser Kontrollverlust erlebt, als Gefühl, vom eigenen Smartphone „getrieben“ zu sein.

Leonard Reinecke ist Medienpsychologe und Professor am Institut für Publizisitik der Universität Manz

© Alicia Ernst

Mit Blick auf den diesen Info-Stress: Müssen wir uns Gedanken oder Sorgen machen?
Ich sehe keinen Grund für Alarmismus: für die allermeisten Menschen ergibt sich aus ihrem Nutzungsverhalten kein unmittelbares Risiko für ihr Wohlbefinden. Dennoch stellt „digitaler Stress“ für viele Nutzer eine Facette im Kanon ihrer alltäglichen Belastungen dar. Allerdings ergeben sich Fragen nach Ursache und Wirkung: neue Mediennutzungsmuster sind eben nicht einfach ursächlich für Stress, sondern Manifestationen eines insgesamt beschleunigten Lebensstils und einer gesamtgesellschaftlichen Lebensrealität, die Entwicklungen vollzieht und uns vor neue Herausforderungen stellt. Dennoch ist es natürlich sinnvoll, die eigene Mediennutzung kritisch zu hinterfragen.

Welche Strategien schlagen Sie vor? Medienfreie Zonen im Lauf eines Tages?

Das wäre ein Anfang. Hilfreich ist es sicher, sich der eigenen Nutzungsmuster bewusst zu werden: in welchen Situationen entspricht meine Mediennutzung eigentlich tatsächlich meinen eigenen Bedürfnissen, wann ist sie eher eine Bürde und Ausdruck von sozialen Erwartungen, der irrationalen Angst etwas zu verpassen oder unreflektierten Gewohnheiten. Ziel sollte also ein möglichst bewusster und selbstbestimmter Umgang mit Mediennutzung sein.

Alles braucht eine Belohnung. Was bringt es mir, wenn ich mich weniger informiere?
Ich denke nicht, dass es das Ziel sein sollte, sich weniger zu informieren. Sinnvoll erscheint mir eher ein gezielterer Umgang mit Informationen. Sich zumindest phasenweise aus dem Nachrichten-Karussell auszuklingen, macht Ressourcen frei, zum Beispiel dafür, sich mit der entsprechenden Muße stärker den Hintergründen und Details aktueller Nachrichtenlagen zu widmen.

Und, lieber Herr Reinecke, wie halten Sie es mit Ihrem Smartphone? Erwünscht ist eine ehrliche Antwort.
Ich stelle sicher keine rühmliche Ausnahme dar und habe natürlich auch kein Patentrezept für den perfekten Umgang mit den Herausforderungen ständiger Erreichbarkeit. Mal ist es ein Segen, mal ein Fluch. Ich persönlich würde das Smartphone aber nicht mehr missen wollen. Dafür sind die positiven Potenziale von digitaler Kommunikation aus meiner Sicht einfach zu groß.

Das Interview führte Joachim Huber.

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