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Cornelia Schleime: „Wenn der Ostwind weht“ aus dem Jahr 2016.

© Cornelia Schleime, Foto: Trevor Good, Berlin.

Kalte Zähne: Malerei von Cornelia Schleime

Die Galerie Judin führt die Künstlerin neu in ihrem Programm – und richtet ihr eine große Ausstellung mit Bildern aus einem Jahrzehnt aus.

Von Dorothea Zwirner

Ob Kuss- oder Schmollmund, feucht glänzend oder lasziv geöffnet, immer sind es volle und sinnliche Lippen, die Cornelia Schleime den Frauen in ihren Bildnissen verleiht. Denn „Ohne Lippen sind die Zähne kalt“, wie der Titel ihrer Ausstellung in der Galerie Judin mit poetischer Wucht verkündet, um auf den Kontrast zwischen der vordergründigen Sinnlichkeit und der hintergründigen Härte ihrer Frauenbildnisse anzuspielen. Es ist die erste Einzelausstellung der Malerin in Berlin seit ihrer Ausstellung in der Berlinischen Galerie 2016 anlässlich des Hannah-Höch-Preises.

Das titelgebende Bildnis zeigt das Porträt einer jungen Frau mit geflochtenen grünen Rastazöpfen, die den Kopf auf die Hand stützt und dabei am kleinen Finger knabbert, sodass der leicht geöffnete Mund den Blick auf ihre Zähne freigibt. Sie schaut dabei fest und geradewegs aus dem Bild heraus, als suchte sie Augenkontakt zu ihrem Gegenüber, das sich im Kreuzfeuer der Blicke fragen muss: Bin ich die Betrachterin oder werde ich betrachtet? Wer agiert hier und wer reagiert?

Plakativ bis an die Schmerzgrenze

Fast alle der 18 Bildnisse und vier Diptychen aus den letzten zehn Jahren (Preise: 34.000 – 108.000 Euro) lenken den Blick auf die eindringlichen Augenpaare und verführerischen Münder der Dargestellten, die sich im bildfüllenden Mittel- bis Großformat meist selbstbewusst, unabhängig und unbeugsam gebärden, bisweilen aber auch trotzig, verträumt und melancholisch. Es ist der „oppositionelle Blick“ von Cornelia Schleime und ihren Frauenporträts, die uns ohnehin mit allen Mitteln der Malerei in ihren Bann zu ziehen versuchen. Geradezu plakativ bis an die Schmerzgrenze des Dekorativen wirken die Bildnisse durch ihren flächigen Bildaufbau, ihre märchenhaften Bilderfindungen und vor allem ihre ungeheuerliche Farbigkeit.

Cornelia Schleimes Porträt „Pechstolz“ von 2024.

© Cornelia Schleime Photo: Trevor Good, Berlin

„Veronese Blau“ (2020) bildet die Hintergrundfarbe des gleichnamigen Dreiviertelprofils, die sich in der Kinnlinie als Türkisblaugrün wiederfindet. Was aus der Distanz stimmig und realistisch erscheint, entfaltet aus der Nähe eine Vielfarbigkeit, die von großer Könnerschaft und Furchtlosigkeit zeugt. Dabei dienen fantastische Bildelemente wie der „Sphärentrichter“ (2022), der sich in allen Regenbogenfarben auffächert, geradezu als Vorwand, um das ganze Farbspektrum zu entfalten. „Der Nacht geschuldet“ (2014-2019) sind die bunten Lichtspiele, die sich auf dem hellen Gesicht vor tiefschwarzem Hintergrund wie die Spuren eines schillernden Lebens abzeichnen.

Drangsaliert und bespitzelt

Die dick aufgetragene Acrylfarbe der Binnendarstellung kontrastiert dabei mit den Hintergründen, die mit Asphalt- und Schellack bearbeitet sind, wodurch die Oberfläche eine eigenwillig poröse Patina annimmt: undurchschaubare Prozesse, wie sie sich im Hintergrund der autobiografisch geprägten Bilderfindungen abgespielt haben.

1953 in Ost-Berlin geboren, wo Cornelia Schleime eine Ausbildung zur Friseurin und Maskenbildner absolvierte, bevor sie in Dresden Malerei studierte, wusste sie, was es heißt, „Wenn der Ostwind weht“. In dem Diptychon von 2016 verbirgt auf der rechten (östlichen) Bildhälfte eine junge Frau im Profil ihren Kopf in den Händen, während ihre zum Zopf gebundenen Haare im freien Wirbel hinüber auf die linke (westliche) Seite wehen.

Bevor die „Windsbraut“ (2024), der die Haare jetzt ins eigene Gesicht wehen, 1984 endlich in den Westen ausreisen durfte, war sie massiver Drangsalierung und Bespitzelung durch das DDR-Regime ausgesetzt. Haare, Stricke, Bänder und die geflochtenen Zöpfe ihrer „Zopfmädchen“ wurden zu einem Leitmotiv für die rigide Bändigung und Unterdrückung von Individualität.

Über Nacht das Land zu verlassen, bedeutete nicht nur den Verlust von Familie und Freunden, sondern auch großer Teile des Frühwerks. Ihm ist der erste Band des demnächst erscheinenden Werkverzeichnisses gewidmet, das die performte Fotografie und Super-8-Filme der Künstlerin umfasst, die in der DDR aus Protest gegen das SED-Regime entstanden sind. Erst durch ihre Stasi-Akten erfuhr sie von dem ungeheuerlichen Verrat durch ihren engen Künstlerfreund Sascha Anderson, der zu einem der prominentesten Spitzelskandale in der Kunstwelt wurde.

Der lange Schatten des Verrats

Als Reaktion hat sich Cornelia Schleime in ihren seit den 1990er Jahren entstandenen Bildnissen eine kunterbunte Gesellschaft von Rebellinnen und Träumerinnen erschaffen, die für die Einzigartigkeit, Würde und Souveränität des Individuums stehen – und gegen dessen Vereinnahmung und Ausspähung. In den Bildtiteln verrät sich ihr Sinn für Sprache, der sich im autobiografischen Roman „Weit fort“ von 2008 auf atemlose Weise Bahn bricht. Es ist die Geschichte vom langen Schatten des Verrats und von dessen Sublimierung durch die Kunst. Dafür liefert die Ausstellung den anschaulichen Beweis, oder mit den Worten der Künstlerin: „Malerei ist wie ein Schwamm, der Aggressivität und Melancholie aufsaugt.“

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