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Kultur: "Der Königsmacher": Nie wieder 1439 Exemplare!

Wind weht vorüber, ein kühler Oktoberabend, und wer aus der Untergrundbahn steigt, landet auf einer langgestreckten Brücke. Hallesches Tor, 20.

Wind weht vorüber, ein kühler Oktoberabend, und wer aus der Untergrundbahn steigt, landet auf einer langgestreckten Brücke. Hallesches Tor, 20.41 Uhr, die gelben Wagen fahren weg ins Dunkle Richtung Warschauer Straße, der Boden vibriert. Ich will nicht nach Osten, nicht nach Westen, ich folge den Leuten nicht die Treppen hinab.

Umsteigen bitte, ehe die Musik des Eisens wieder anhebt. Ich bleibe am Halleschen Tor am Ende des Bahnsteigs und gebe Befehle.

Denk dir die U-Bahn weg, die Eisengerüste, die Hochhäuser mit Küchen- und Wohnzimmerlicht, den Kanal unten, alles weg. Hör den Autolärm nicht, die fernen Sirenen, die nächste U-Bahn. Die Stadt schweige. Rieche den gepflügten Acker, die feuchten Wiesen, nicht Benzin, Fettdunst, Hundekot. Lass die Leute verschwinden oder verkleide sie, wenn du kannst.

msteigen bitte, fast zweihundert Jahre zurück, ungezählte Stufen in die Vergangenheit hinunter. Es ist ganz einfach. Eine neue Landkarte aufschlagen.

Stille. Wind weht vorüber, ein kühler Oktoberabend zwischen acht und neun.

Ich höre: Hufe schlagen auf einen feuchten Sandweg.

Ich sehe: Ein Pferd galoppiert von Süden heran, den Kreuzberg hinunter. Den Reiter umweht ein weiter schwarzer Mantel. Vor dem Wachtposten am Halleschen Tor öffnet er sein Gewand, darunter blitzt eine Generalsuniform auf, der Posten salutiert. Der Reiter passiert das Rondell und wendet von der Friedrichstraße nach rechts in die Jacobstraße. Kein Mensch zu sehen, die Straßen dunkel, hinter den Fenstern hier und dort Kerzenlicht. Es ist nicht die Gegend, in der hohe Militärs sich aufhalten. Vor einem der einfachen Häuser steigt der Reiter ab, bindet das Pferd an und klopft an die Tür der Nummer 21. Er ist etwa Mitte dreißig, sieht erschöpft aus, geschlagen, gejagt. Eine ältere Frau öffnet, erkennt ihn, er tritt ein.

Wo ist Marie? - In Küstrin, die sind alle nach Küstrin. - Das ganze Theater? - Ja. Der König ist doch abgehaun ... geflohen, meine ich. - Das weiß ich, ich muss auch weg. Der ganze Hof soll auf der Flucht sein, aber warum denn das Hoftheater, was für ein Unsinn! - Die Franzosen kommen. - Ich weiß, ich weiß. Franzosen, überall Franzosen. Deshalb muss doch Marie nicht ... - Es ging so schnell, fünf Minuten gepackt, weg war sie.

Frau Hoffman, lassen Sie Marie holen, sagt der General nach kurzem Überlegen, schicken Sie Gottfried! Er legt Geld auf den Tisch. - Jawohl. Die Mutter ruft ihren Sohn herbei, einen stämmigen Burschen, und gibt den Befehl weiter.

Wenn ich noch die letzte Chaise kriege, antwortet der. - Mit dem Geld bestimmt! - Sind schon alle weg, die Herrschaften, sagt Gottfried. Untern Linden sind se alle weg, nur noch Dienstboten in den Häusern. Sogar der Stadtkommandant, vorgestern Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, heute ab und nischt wie zum Tore hinaus.

Red Er nicht, hol Er seine Schwester, befiehlt der General. Gottfried geht. Frau Hoffmann bietet dem Gast das Nebenzimmer an. Alles ist ärmlich, Kontrast zur glänzenden Uniform. - Napoleon hat mich verbannt, nach Posen. Ich darf mich in Berlin gar nicht aufhalten. Und keine drei Tage, dann sind sie da, die Franzosen. - Sie können hier warten, Herr Wilhelm. - Auf schnellstem Wege, hat er gesagt. - Wer? - Der Kaiser, der uns alle niedertrampelt. Auf schnellstem Wege ab nach Posen, Herr Generalmajor! Ab mit Ihnen! - Marie wird sich freuen.

Der General holt das Pferd in die Remise, bringt Stroh, Heu, einen Eimer Wasser. Er wartet, bis das Tier gesoffen hat, geht ins Haus zurück, zieht Stiefel, Uniformjacke und Hose aus und schläft sofort ein.

Traumbilder: Gewehre, Bajonette, Kürasse liegen weggeworfen am Feldrand - überall Verwundete, die nicht aufhören zu schreien - mit blutenden Köpfen, abgehauenen Armen, Bauchwunden - in den Gräben verlassene Kanonen und Munitionswagen - verbündete Soldaten, Preußen und Sachsen, prügeln sich um verschimmeltes Kommissbrot - Franzosen von rechts und links und von vorn rücken mit Bajonetten an - gezückte Säbel, Todesschreie, Kanonendonner - ein kleiner Trupp der Preußen irrt auf dem Schlachtfeld umher - Gemetzel, Gedrängel neben Pferdekadavern - Wimmern, Heulen, Jammern, Flüche von allen Seiten - die Armee völlig zerrieben, keiner kämpft, wer noch nicht tot ist, rennt und flieht - Leichen, überall Leichen - ein Franzose mit wilder Frisur sticht zu: Bilder könnten durch den Traum eines Generals ziehen, der mit 40 000 Preußen und Sachsen gegen Napoleons Armee verloren hat.

Er steht auf, lugt zum Fensterladen, es ist taghell, er geht in die Küche, taucht einen Krug in einen Eimer Wasser, trinkt den Krug leer, geht ins Zimmer, schläft wieder ein.

Marie, eine dunkelblonde Schönheit, neunzehn Jahre, steht vor seinem Bett, weckt ihn mit Küssen. Zärtlichkeiten.

Mein lieber, lieber Wilhelm.

Sie zieht ihn aus.

Auch nach dem Beischlaf hören sie mit den Zärtlichkeiten nicht auf. Er genießt es, wenn sie ihm die Zehen küsst.

Gehen der König und die Königin etwa ins Theater in Küstrin? - Natürlich nicht. Alles drunter und drüber, weiß doch keiner was. Und die Königin Luise ist ja erst gestern angekommen.

Ein Desaster, Preußens Untergang, der König flieht, und das Ballett, das Hoftheater flieht hinter ihm her!

Der Intendant hat uns geschickt, der König hat das nicht befohlen. Er war wütend, als er uns in Küstrin sah, aber er wollte uns auch nicht zurückschicken.

Ach, mein lieber Schwager reitet uns alle ins Verderben und kann sich wieder mal nicht entscheiden.

Wo ist deine Frau?

Bei Luise, bei der Königin, nehm ich an. Ich weiß nicht, wie lang ich jetzt weg sein werde, Marie.

Wir sehn uns wieder, ich weiß es.

So etwas dachte ich anzufangen, mit einem schlichten Handlungsgerüst, kurzen Dialogen und Skizzen. Erst einmal sollten alle Szenen oder Kapitel in dieser Rohform bleiben, ohne Wetter, Landschaften und längere Herzensergießungen, ohne Kostüme, Kutschen und Kronleuchter. Figuren ausmalen, Gesichter beschreiben und Blicke deuten, längere Konversationen, innere Monologe, all das wollte ich für die späteren Fassungen aufheben.

Es wäre keine Kunst, die Kostüme ausführlicher zu schildern, die Zimmer mit schmückenden Worten wohnlicher einzurichten, die Gebäude farbiger zu gestalten. Auch das Schlachtengemälde von Jena und Auerstedt ließe sich leicht mit blutigen und brutalen Details bereichern. Natürlich müsste mit mehr Sex gewürzt werden - a little sex never hurts. Aber im Großen und Ganzen, dachte ich, könnte der Anfang so aussehen, könnten die Figuren ungefähr in diesem Takt aufeinander losmarschieren, der Prinz und die Tänzerin ihre wilde und tragische Geschichte beginnen.

Zuerst nur die Skizze der Story, so locker wie möglich entworfen, um sie später in jede gewünschte Richtung auszubauen. Drei Wege, drei Formen gab es, doch die Entscheidung hielt ich einstweilen offen: einen schmissigen Unterhaltungsroman, eine nüchtern-kritische Zeitstudie oder einen Drehbuch-Entwurf für einen Kinofilm.

Nichts ist fiktiver als die Vergangenheit. Wie die Vorstellung auch immer gesteuert wird, sie bleibt eine Vorstellung. Das Vergangene, schreibt Harry Mulisch, ist ebenso unsicher wie die Zukunft. In der Zukunft kann (fast) alles noch geschehen - doch auch in der Vergangenheit kann (fast) alles geschehen sein.

Was vergangen ist, wirkt so oder so wie ein Filmstreifen: bekannte Bilder mit neuen Bildern geschnitten, die auch nur eine neu geschnittene Mischung aus alten Bildern sind.

Nie wieder 1439 Exemplare!, das ist, offen gesagt, die einfachste Antwort auf die Frage, warum ich mich in die Geschichte von Willem und Marie verbissen habe.

Ein uraltes Familiendrama, von dem ich gerade erst gehört hatte und das mich in direkter Linie von meiner Mutter über meinen Großvater zu einem Nachkommen von Willem und Marie und ihrer Tochter Wilhelmine beförderte. Eine Geschichte mit romantischer und monarchischer Schwerkraft, mit der ich für immer abheben wollte, aufsteigen aus allen Misserfolgen, Depressionen, Niederlagen.

Ich war am Tiefpunkt meiner Karriere. Fühlte mich geschlagen, am Boden liegen, zerstört von der tückischen Idylle des Buchmarktes und verletzt von den wechselnden Winden der Moden. 1985 (welche Leser werden sich noch erinnern?) war ich für Fasching mit Elvis als Debütant gefeiert worden, dann ging es Schritt für Schritt bergab. Die nächsten beiden Romane wurden freundlich besprochen und schlecht verkauft, doch mit dem letzten erlebte ich die schrecklichste Pleite - und das ausgerechnet mit einem aktuellen Stoff, mit einer Ost-West-Liebesgeschichte, mit dem allseits erwarteten Roman zur deutschen Einheit: Die Fähre von Caputh.

1439 Exemplare, das sollte es nie wieder geben.

Junger Autor, das war der Bonus, von dem ich lange gezehrt hatte. Lob, Tätscheln, kleine Preise und mickrige Stipendien, diese Phase war lange vorbei. Nun war ich vierzig geworden, also plötzlich alt, aber nicht respektiert wie die Alten über sechzig, sondern im schlimmsten aller Zwischenzustände: ein alt gewordener Jungautor, ein junger Greis, ein Mann von gestern, ein Versager - auf der Höhe seiner Kräfte.

Was war mein Fehler, wenn es mein Fehler war?

Vielleicht, überlegte ich, hatte ich nach dem ersten Buch zu sehr auf das geschielt, was der Markt oder das Publikum angeblich verlangte, hatte teils aus Berechnung, teils aus Instinkt und manchmal vom Verlag gedrängt sogenannte gängige Themen gewählt, zuletzt die Ost-West-Geschichte, und war damit aufs schändlichste gescheitert.

Ein Opfer der guten Ratschläge, ein Opfer der deutschen Einheit.

Nur beim ersten Roman hatte ich mich an keinen Rat gehalten. Elvis Presley in Bad Nauheim, geschrieben aus der Perspektive eines Zahnarztes, seines Nachbarn, da waren alle Freunde und Fachleute einig gewesen: das interessiert doch keinen, Elvis ist überholt, ausgelutscht, Elvis-Fans lesen keine Bücher, und so weiter - es ist mein einziger Erfolgstitel geworden, Fasching mit Elvis.

Und nun 1439 Exemplare, tiefer konnte ich nicht sinken.

Wie fängt man wieder von vorne an? Ich sah nur eine Möglichkeit: auf keinen guten Rat, auf keine Marktanalyse hören. Das Heil in den sicheren Gefilden der Vergangenheit suchen. Es gab nur einen Weg nach oben: die gängigen Themen vergessen, also ihnen voraus sein.

Gerade weil das frühe 19. Jahrhundert niemanden interessiert, überlegte ich, ließe sich hier anfangen. Gerade weil die Familien zerbrechen, eine dramatische Familiengeschichte aus dem Dunkel des 19. Jahrhunderts graben. Weil nur noch starke Frauen Romanheldinnen sein dürfen, mal wieder ein Opfer zeigen. Alle setzen auf den neuen Markt, den neuesten Trend. Darum wäre es schlau, in den alten, den uralten Markt einzusteigen.

Also begann ich mit den am wenigsten gefragten Werten zu spekulieren: vaterländische Kriege, Leidenschaften der Könige, das Trio Pflicht, Tugend, Etikette und das romantische Märchen von Prinz und Bäckerstochter. Weil diese alte Zeit nicht aktuell ist, hoffte ich, und nicht alle Köpfe besetzt, warten hier die schönsten Freiheiten, der weiteste Horizont für Phantasie, der ferne Erfolg.

Und ich fasste die tollsten Vorsätze: So eine Pleite wie mit der Fähre wird mir nie wieder passieren! Ich, der Ururururenkel von König Willem, lasse mich nicht mehr kleinkriegen! Mit erhobenem Haupt werde ich vor das Publikum treten! Als schreibender Königssohn muss die Auflage um das Zehnfache, der Hundertfache steigen!

Für alle, die sich schon an dieser Stelle über meine Naivität wundern: Ohne Größenwahn läuft in unserem Gewerbe sowieso nichts. Der fällt normalerweise gar nicht auf.

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