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Karl der Kühne (nach Rogier van der Weyden)

© imago/Leemage

Burgund, ein historisches Land in europäischer Mittellage: Ein Reich ist nicht genug

Bart Van Loo erzählt vom Frühling Burgunds, Heinz Schilling vom Leben und Sterben des Universalkaisers Karl V.

Was wäre, wenn Karl der Kühne von Burgund nicht 1477 vor Nancy gefallen wäre? Was, wenn Karl V. seine ritterliche Zusage freien Geleits an Luther nach dem Reichstag zu Worms 1521 gebrochen – und damit womöglich die Reformation abgewürgt hätte?

Fragen, die sich heute kaum einer mehr stellt, weil die Epoche, die sie betreffen, im kollektiven Gedächtnis kaum mehr präsent ist. Dabei hat sie die Gegenwart vermutlich mehr geprägt als vieles andere. Der belgische Schriftsteller Bart van Loo lebt mit seiner Familie in einem Dorf in Westflandern, 50 Kilometer trennen ihn von Gent und Brügge, 40 von Lille und Tournai, eine Region, die einmal das Herzzentrum Europas war – und jetzt wieder ist. Von hier aus formierte sich das Frankenreich, hier entstanden die moderne Textilindustrie und der Finanzsektor, heute noch nachklingend in der Namensgebung der Börse. Ter Beurze hieß das wichtigste Geldhaus in Brügge, für Van Loo „die Wiege des Kapitalismus in Westeuropa“, so wie Flandern für ihn „das Silicon Valley des Mittelalters“ war. Und nannte Johan Huizinga sein berühmtes, 1919 erschienenes Buch über das Zeitalter Burgunds schließlich „Herbst des Mittelalters“, so hätte Van Loo sein Burgund auch gut „Frühling der Neuzeit“ nennen können.

Flandern und Holland - was für eine Mitgift

Denn seine Erzählung spielt weitgehend in den Jahren 1361 bis 1477, an der Schnittstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, zur Regierungszeit der vier Herzöge des sogenannten „jüngeren Hauses Burgund“. Ihr Territorium rund um Dijon wurde im späten 9. Jahrhundert errichtet; 1361 vergibt es König Johann der Gute von Frankreich als Lehen an seinen Sohn Philipp.

Mit diesem Philipp, der „der Kühne“ („le hardi“ bzw. „de Stoute“) heißt, weil er dem Vater 1356 in der Schlacht bei Poitiers im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer den Rücken freihielt, beginnt das „burgundische Jahrhundert“. Durch geschickte Heiratspolitik bringt er Flandern und Holland in seinen Besitz – und initiiert die „Burgundisierung der Niederlande“. Aus der französischen Sekundogenitur wird eine eigenständige Macht. Philipps Sohn Johann „Ohnefurcht“ forciert die Abnabelung vom großen Bruder Frankreich, das damals gegen das übermächtige England um seine nackte Existenz kämpft, und stürzt es 1407 durch die Ermordung seines Cousins Ludwig von Orléans gar in einen Bürgerkrieg. Sein Sohn Philipp der Gute regiert fast ein halbes Jahrhundert lang, zeugt zahllose Bastarde – und liefert 1430 Jeanne d’Arc an die Engländer aus.

Wagemutig - ein Spieler

Ihm folgt 1467 sein Sohn Karl, der berühmteste – und letzte – Burgunderherzog. Auch ihn kennen wir als „den Kühnen“, doch Van Loo möchte ihn lieber wie im Französischen „den Waghalsigen“ („le téméraire“) nennen. Denn der rasende Ehrgeiz dieses „nackten Gewaltmenschen“, aus dem „Großherzogtum im Westen“ ein Königreich Burgund zu machen, bricht ihm das Genick. Ausgerechnet gegen die Schweizer Eidgenossen verliert Karl, der für Van Loo „etwas von einem verhinderten Napoleon“, aber auch viel von dem Vabanquespieler Friedrich dem Großen hatte, in drei blamablen Niederlagen „erst das Gut, dann den Mut und schließlich das Blut“, wie es in einem beliebten Merkvers heißt.

Doch der burgundische Traum ist damit noch nicht ausgeträumt. Das eigentliche Herzogtum selbst fällt zwar rasch zurück an Frankreich, wo es bis heute als Region Bourgogne-Franche-Comté fortbesteht; die niederen Lande aber bleiben bei Karls Tochter und Erbin Maria und ihrem Bräutigam Maximilian von Österreich, dem „letzten Ritter“ auf dem deutschen Kaiserthron. Ihr Enkel Karl wird sie in vier blutigen Kriegen (wenn auch hauptsächlich in und um Norditalien geführt) erfolgreich gegen den französischen Nachbarn verteidigen – und trotzdem wie sein Urgroßvater als gescheiterter Mann sterben.

Der Urenkel als Stern am europäischen Firmament

Dieser Enkel, Kaiser Karl V., war für Heinz Schilling, Emeritus an der HU Berlin und eine Koryphäe der Frühen Neuzeit mit Büchern wie „Luther“ oder „1517“, „der erste Kaiser eines Weltreiches“, aber er war auch der einzige große Herrscher der europäischen Neuzeit, der freiwillig auf den Thron verzichtete: „ein Akt tiefer Herrscherhumanität in einem Moment, in dem der skrupellose Realismus machiavellistischer Politiktheorie sich in Europa seinen Weg bahnte“, und „ein Rückzug in die private Universalität des Glaubens“.

Der Urenkel Karls des Kühnen wuchs als Burgunder auf, seine Muttersprache war Französisch. Geboren im bürgerstolzen Gent, träumte der Kaiser, in dessen Reich die Sonne nicht unterging – seine Großmutter Isabella von Kastilien hatte die Überfahrt von Christoph Kolumbus finanziert –, von der Universalmonarchie. „Skrupulös und selbst-reflektiv gegenüber den religiösen und sittlichen Normen“, besiegte Karl nicht nur viermal König Franz I. von Frankreich – bei Pavia 1525 nahm er ihn sogar gefangen –, sondern stand auch die erste Wiener Türkenbelagerung 1529 durch, schlug sechs Jahre später Suleyman den Prächtigen bei Tunis und demütigte 1547 bei Mühlberg den politischen Führer des Protestantismus, den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I.

Tizian:„Karl V. bei Mühlberg“, 1548 (Museo del Prado, Madrid).

© akg-images

Aber dieser Schlachtenkaiser war auch der Mann, der sich „die Frage der Kolonialpolitik als Gewissensfrage gestellt“ und sich „der religiösen, rechtlichen und sozialen Probleme der Eroberung innerlich angenommen“ hat. Der katholische Romancier Reinhold Schneider hat das in „Las Casas vor Karl V.“ verewigt.

Doch das sollte nicht reichen. Karl, der von einem europäischen Kaisertum und einer vielleicht modernisierten, aber einigen Kirche träumte, musste einsehen, „dass sein Ordnungs- und Friedenskonzept sich nicht würde durchsetzen lassen“, und dankte 1555 in Brüssel (ausgerechnet) in einer traurigen Zeremonie ab. Auch sein Traum, sich in der Kartause von Champmol in Dijon neben seinen burgundischen Ahnen begraben zu lassen, erfüllte sich nicht. Stattdessen zog er, gichtgeplagt, ins Kloster von Yuste in die Extremadura, wo er im September 1558 starb.

Belgische Meistererzählung

„Die Einheits- und Friedensidee Karls V.“ schreibt Schilling, „galt einem vorstaatlichen und vornationalen Europa.“ Man ersetze „vor“ durch „nach“, und schon hat man die Europäische Union von heute. Die Grundlagen dafür wurden gelegt in jener „Sattelzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit“ (Schilling), die man gern mit Van Loo im 14. Jahrhundert auf dem Schlachtfeld von Poitiers beginnen lassen kann, wo, wie zehn Jahre zuvor bei Crécy, nicht nur das Rittertum seinen Schwanengesang erlebte, sondern auch „Filip de Stoute“ sich für seine burgundische Zukunft qualifizierte.

Freilich: Van Loo schreibt die Geschichte Burgunds deutlich als belgische Meistererzählung, so wie Schilling diejenige Karls als burgundische, mit Burgund als einem Europa en miniature, in dem die „multiethnische Zusammensetzung der Untertanen die Regel“ war, und Karl als burgundischem Kaiser, der „wie Luther eine ganz persönliche Religiosität zum Ausdruck“ brachte, „die tiefe, der Reform offene Frömmigkeits- und Humanismustradition seiner niederländischen Heimat“.

Deutscher, Spanier - Burgunder

Doch der „Reisekaiser“ Karl sah sich tatsächlich nicht als Deutscher, sondern als Spanier, vor allem aber als Burgunder. Deshalb und wegen seiner Katholizität fand dieser vielleicht faszinierendste gesamtdeutsche Herrscher seit dem Mittelalter in der lange Zeit nationalprotestantisch definierten deutschen, aber auch der europäischen Geschichtstradition kaum die Würdigung, die er verdiente.

Dabei sind nicht nur die Niederlande und Belgien, wie Van Loo schreibt, sondern vielleicht sogar das moderne Europa „ein burgundischer Entwurf“: kein fest umrissenes Territorium, sondern eine Idee, die Idee der Universalität, der toleranten Koexistenz einander widerstrebender, aber aufeinander angewiesener Kräfte. Eine Idee, die zu ihrer Verwirklichung einer dauernden Anspannung bedarf – und auf die sich Europa inmitten seiner derzeitigen schweren Bedrohung, die auf bizarre Weise an die pestgeplagte Frühneuzeit erinnert, gerade wieder besinnt.

Bart Van Loo: Burgund. Das verschwundene Reich. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Verlag C. H. Beck, München 2020. 656 S. mit 50 farbigen Abbildungen und 5 Karten, 32 €.

Heinz Schilling: Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. Verlag C. H. Beck, München 2020. 457 S. mit 40 Abbildungen und 3 Karten, 29,95 €.

Konstantin Sakkas

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