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Konzert vor dem Taras Schewtschenko Denkmal

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Tagebuch (106): Charkiwer Stahlbeton ist unzerstörbar

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

1.2.2023

„Du holst die Gitarre raus und lässt sie einfach eine halbe Stunde stehen, man sollte dem Holz ausreichend Zeit geben, sich dem Wetter anzupassen, dann stimmst Du sie neu - und dann kann man losspielen!“ So brachte mir Wasil Riabko bei, wie man mit einer E-Gitarre draußen bei Wintertemperaturen umgeht. Im Januar 2014 ist das gewesen. Draußen waren zwei Grad, was für ein Open Air Konzert eindeutig zu kalt war.

Nicht für Wasil. Seine Band Papa Karlo spielte damals regelmäßig bei den Kundgebungen neben dem Taras Schewtschenko Denkmal. Diese Versammlungen jeden Abend waren die Charkiwer Antwort auf den Kiewer Maidan. Ich versuchte, so oft, wie es nur ging, dabei zu sein (es hat sich ergeben, dass ich in dieser Zeit in Charkiw war). Irgendwann hat Serhij mich eingeladen, ein paar Lieder zu singen - eine Ehre, aber auch eine Herausforderung. Als Musiker hatte ich noch nie an solchen Aktionen teilgenommen.

Wasil lernte ich in der Aula der Charkiwer Universität kennen, wo wir gemeinsam im Oktober 1992 auftraten. Ich war mit meiner damaligen Band Wylde dabei, und Wasil präsentierte die erste Papa Karlo Besetzung. Sie spielte stark nach dem Rock’n’Roll der späten fünfziger Jahre klingende Songs auf Russisch.

Die Zeit der Orangenen Revolution

Erst 10 Jahre später kamen die ukrainischen Lieder dazu. Mit diesen hat die Band in der Zeit der Orangenen Revolution an den Protesten teilgenommen. Als wir uns mit Wasil 2014 nach einer langen Pause wieder trafen, sind von Papa Karlos alter Besetzung nur er und sein älterer Bruder an den Drums geblieben. Das Repertoire der Band bestand inzwischen ausschließlich aus ukrainischen Songs. Auch in der alltäglichen Kommunikation wechselte Riabko, der in einer russisch-sprechenden Familie aufwuchs, in die ukrainische Sprache. 

Ich erinnere mich gut, wie ich Berliner Musikern über die Auftritte meiner ukrainischen Freunde während des Maidans erzählte. Sie fanden auf den Straßen statt, der Sound war oft miserabel, dafür die Stimmung unvorstellbar toll. Aber die Auftritte waren nicht ungefährlich. Bei diesen Konzerten musste man Schlägereien und andere unangenehme Überraschungen immer mit einkalkulieren. Einmal wurde Papa Karlo von einer Gruppe Bullis mit Baseball-Schlägern angegriffen. Trotzdem gelang es ihnen nicht, das Konzert zu stören.

2016 sind wir dann auf eine kurze Donbass-Tour gegangen - Wasil mit seinen Jungs und Zhadan i Sobaky, bei denen ich mitspielen durfte. Bei Kostyantynivka performten wir für die dort stationierten ukrainischen Streitkräfte. Mittlerweile hört man bei der Band neben E-Gitarren das Knopfakkordeon, und die Sängerin Jana Sawarsina ist mit dabei. Einer der neuen Songs heißt „Charkiw Salisobeton“ (Charkiw Stahlbeton).

Heute kann ich mich nicht mehr erinnern, wer es als Erster gesagt hat - Charkiw und seine Bürger sind aus Stahlbeton. Sie sind unzerstörbar! Der Grafiker Patrick Cassanelli entwarf ein Logo mit einem der bekanntesten Charkiwer Stadtsymbole, dem Derschprom-Gebäude. Darüber hat er die Inschrift „Charkiw Stahlbeton“ gesetzt. Wasil ließ sofort eine Auflage T-Shirts mit diesem Motiv drucken und bot sie seinen Kumpels an. Wünscht man sich das T-Shirt, bezahlt man ein zweites dazu - dieses wird einem Soldaten an der Front geschenkt.

Inzwischen lässt Wasil auch Hoodies und Mützen produzieren. Am 4. und 5. Februar spielt Papa Karlo im Rahmen der Europatour von Charkiw Stahlbeton in Berlin. Ihr erstes Konzert findet im Klubhaus des Studentendorfes Schlachtensee statt; am Sonntag spielen sie um 16 Uhr in der Schwartzschen Villa im neulich eröffneten Charkiw Park. Die Lufttemperatur wird an die Maidan-Tage in meiner Heimatstadt erinnern. Ich werde dabei sein.

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