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Ringen um Werte. Die amerikanische Politologin Wendy Brown.

© Christian Marquardt für den Tagesspiegel

„Nihilistische Zeiten“: Wendy Brown sucht Antworten auf die politischen Krisen der Gegenwart

In ihrem Buch beschäftigt sich die amerikanische Politologin mit den Wirrungen einer wertfreien Gesellschaft. Max Weber hilft ihr dabei.

Von Friedrich Weißbach

Spätestens seit der Amtszeit von Donald Trump haben sich in der politischen Debatte Wertegrenzen verschoben. Rassistische, antisemitische und misogyne Äußerungen werden hoffähig, und wissenschaftliche Fakten wie der Klimawandel werden als bloße Meinung abgetan. Wahrheit und moralische Grundprinzipien scheinen keinen Wert mehr zu haben.

Für die US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown ist dies Ausdruck eines um sich greifenden Nihilismus. Sie versteht darunter nicht einfach, „dass alle Werte aus der Welt verschwunden sind oder das Leben für weitgehend sinn- bzw. bedeutungslos gehalten wird“. Vielmehr beschreibt Nihilismus einen Zustand der Grundlosigkeit. Während früher Gott oder die menschliche Vernunft als Autorität dienten, um Werte zu begründen, geht der Nihilismus von der Einsicht aus, dass es diese als solche nicht gibt, sondern wesentlich Produkt menschlicher Urteile sind.

In ihrem Buch „Nihilistische Zeiten“ wendet sich die im kalifornischen Berkeley lehrende Professorin zunächst den berühmten Vorträgen „Wissenschaft als Beruf“ (1917) und „Politik als Beruf“ (1919) von Max Weber zu. Sie waren Reaktionen auf die unsicheren Zeiten im Zuge des Ersten Weltkriegs. Nach Nietzsches Abrechnung mit den christlichen Moralvorstellungen stand schon damals die Wertefrage im Fokus der Auseinandersetzung.

Auch Theodor W. Adorno oder Hannah Arendt diagnostizierten diese als entscheidenden Faktor für die politischen Bewegungen der 20er und 30er Jahre. Totalitäre Bewegungen, so das gemeinsame Credo, waren Reaktion auf die Haltlosigkeit, die mit dem Nihilismus einherging. Religion, Nationalismus und Kommunismus fungierten als neue Ersatzwahrheiten. Ähnliches – so Brown  – wiederhole sich heute.

Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass Brown sich ausgerechnet Max Webers Denken widmet, der unter linken Theoretikern – zu denen sich Brown selber zählt – als Vater eines neoliberalen Denkens verurteilt wird. Doch für Brown erweist sich Max Webers Insistieren darauf, dass Krisen nur innerhalb der politischen Sphäre beantwortet werden können, als maßgeblich für die heutigen Herausforderungen.

Webers Einsicht, dass Werte niemals als absolut wahr bezeichnet werden können, sieht Brown als Gefahr und Chance zugleich. Als Gefahr, weil hinter dem Aushandlungsprozess nie ein Punkt gesetzt werden kann. Es droht eine Überforderung – und mit ihr entweder eine Politikverdrossenheit oder eine Hyperpolitisierung. Als Chance, weil die Einsicht in die fehlende Absolutheit die Veränderbarkeit der Verhältnisse hervorhebt.

Jede politische Ambition, Werte zu naturalisieren und sie aus dem Diskurs auszuschließen, ist für Brown deshalb abzulehnen. Dies gilt besonders für rechte Bewegungen, die Menschen unterschiedliche Werte aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht zusprechen, aber auch für Strömungen der Mitte, die à la Habermas in der Vernunft oder einer logischen Beweiskraft die Rettung der politischen Sphäre erkennen.

Wollen diese nicht im politischen Kampf untergehen, so Browns gewagte These, gelte es, die emotionale Ebene der Politik ernst zu nehmen. „Die Aufgabe derer“, so Brown, „die sich für eine gerechtere und nachhaltigere Ordnung einsetzen, besteht eher darin, den unsch nach einer solchen Ordnung zu entfachen und zur Entfaltung zu bringen und diesen Wunsch in eine Weltanschauung und in ein umsetzbares politisches Projekt einzubetten.“

Dass eine solche Einstellung auch in ihr Gegenteil kippen kann, nämlich in eine allein von Gefühlen geleitete Politik, die anfällig ist für autoritäre Tendenzen, ist Brown zwar bewusst, sei aber letztlich die Gefahr einer jeden wahrhaften Demokratie.

Max Weber, erläutert Brown, sah zwar „die Finsternis vor sich, aber sein Weg, die nihilistische Zerstörung von Wissenschaft und Wahrheit einzudämmen, führte direkt in sie hinein.“ Sie sieht besonders Webers strikte Trennung von Wissenschaft und Politik und besonders sein Credo, dass die Wissenschaft bestehende Werte nicht bewerten dürfe, kritisch.

An dem Versuch rechter Kräfte, Gender- und Critical-Race-Theorie an US-amerikanischen Universitäten zu verbieten, werden für Brown die Grenzen von Webers kategorischer Trennung deutlich. Hier zeige sich, dass allen Werte Dimensionen zugrunde liegen, die auf historischen Machtkonstellationen beruhen. Als solche gilt es, sie kritisch zu reflektieren. Nur so kann man politische Subjekte bilden, die tatsächlich in der Lage sind, angemessen um politische Werte zu streiten und damit ein Gegengewicht zum Nihilismus und totalitären Bewegungen zu geben.

Der Scharfsinn, mit dem sie heutige politische Phänomene anhand von Weber beschreibt, ist durchaus erhellend. Statt die nihilistische Krise wegzureden oder ihr mit einer Renaissance neuer Universalismen zu begegnen, gilt es ihre Wahrhaftigkeit anzuerkennen und die Wertebildende Funktion der Politik ernst zu nehmen.

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