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Ukraine: Die Kindersoldaten von Lemberg

Nach dem Ende der Sowjetunion restaurierte Polen einen Heldenfriedhof in der Ukraine – zum Ärger mancher Einwohner.

Nadja findet das Grab nicht. Der Bruder ihres Urgroßvaters soll hier liegen. Während ihre Eltern frierend dem Fremdenführer zuhören, stapft das Mädchen durch den Schnee und sucht das Kreuz mit dem Namen Tadeusz Zachara. Ein „Orleta Lwowskie“ sei er gewesen, ein Lemberger Adler, habe ihr die Mutter vor der Reise vom polnischen Krakau in die Ukraine erzählt. Er sei ein Held, sagt Nadja.

Auf dem Lytschakiowsky-Friedhof im westukrainischen Lemberg (Lwiw) liegen viele Helden, hunderte Steinkreuze markieren ihre Gräber. Die Soldaten haben im Krieg 1918/19 gegen die Ukraine für ihre Heimat Polen gekämpft. Verstörend ist die Altersangabe vieler Gefallener auf den Grabsteinen – auf diesem Gottesacker liegt ein kleines Heer von Kindersoldaten. Jurek Bitschan ist das Symbol dieser Lemberger Adler. Er wurde 14 Jahre alt. Am 21. November 1918 zerrissen ihn zwei ukrainische Granaten, während seine Mutter als Kommandantin eines Frauenbataillons an einem anderen Frontabschnitt kämpfte. In einer schwermütigen Ballade wird der Tod des Jungen besungen. Es ist die Geschichte dieser vielen toten Kinder, die diesen Teil des Lytschakiowsky-Friedhofs in Polen zu einem besonderen Symbol macht.

Im Jahr 1919 überrannten polnische Truppen die Stadt, die bis zu jenem Zeitpunkt Sitz der Regierung der Westukrainischen Volksrepublik war, Lemberg gehörte danach wieder zu Polen. Der Friedhof wurde ein Denkmal des Ruhmes und sollte das Recht Polens auf die Gebiete Ostgaliziens untermauern. Im Jahre 1925 wurde sogar die Asche eines unbekannten Verteidigers von Lemberg zum Grab des unbekannten Soldaten in Warschau überführt. Als dann allerdings die sowjetischen Machthaber nach dem Sieg über Hitler-Deutschland das Sagen hatten, wurde die Stadt wieder der Ukraine zugeschlagen. Der Friedhof der Lemberger Adler zerfiel. 1971 machten schließlich Panzer alles dem Erdboden gleich. Ein Steinmetzbetrieb wurde aufgebaut, der Rest wurde zur Müllhalde.

Nach dem Untergang des Sowjetreichs machte sich die Ukraine auf die Suche nach ihrer lange verschütteten Identität. Fündig wurde sie auf dem Lytschakiowsky-Friedhof in Lemberg. Denn dort liegen auch die Helden der ukrainischen Geschichte, Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Zeugen der einstigen Größe des Landes. Igor Beiosir ist dort begraben, ein Komponist von Volksliedern, der auf einer Kneipentour von Russen erschlagen wurde, weil er ein ukrainisches Lied gesungen hatte.

Aber auch in Polen erinnerte man sich nach Jahrzehnten unter der Knute Moskaus an die eigene Historie. In einer langen Liste der Demütigungen ragt die siegreiche Schlacht um Lemberg heraus, weshalb die Politiker in Warschau sich entschlossen, den polnischen Soldatenfriedhof wieder herzurichten. Für manche Lemberger war das ein Skandal, hielten sie doch den Friedhof für eine beschämende Erinnerung an die Niederlage der Ukraine.Der Konflikt war programmiert, aber die damaligen Präsidenten auf beiden Seiten erklärten den umstrittenen Gottesacker kurzerhand zur Chefsache. Leonid Kutschma und Aleksander Kwasniewski machten daraus ein Projekt der Versöhnung und wollten dies durch eine Kranzniederlegung dokumentieren.

Davon wurden allerdings die Verantwortlichen vor Ort überrumpelt, da der Friedhof sich damals noch in einem unansehnlichen Zustand befand. Direktor Ihor Hawryschkewitsch und seine Männer gaben ihr Bestes, doch als der Tag der Eröffnung nahte, fehlte auf dem zentralen Platz noch die mächtige Säule. Aber Hawryschkewitsch ist ein belesener Mann, der die Geschichte der potemkinschen Dörfer kennt. „Statt der Granitsäule haben wir ein riesiges Stahlrohr aufgestellt und es so angemalt, dass es wie Granit aussah. Und statt der großen Statue des heiligen Michael haben wir ein Kreuz aus Birkenstämmen auf diese Säule gestellt.“ Als die Präsidenten anreisten, stockte Hawryschkewitsch angesichts seiner Dreistigkeit nachträglich noch der Atem, doch die kleine Schummelei bemerkte niemand.

Der weitere Ausbau sorgte immer wieder für Zank zwischen den Nachbarn. Mal ging es um die Inschrift auf dem Grab eines unbekannten Soldaten, wo zu lesen war, er sei für seine „Heimat“ gefallen. Das wurde von ukrainischen Nationalisten als Grenzrevisionismus angesehen. Zum Eklat kam es, als polnische Bauarbeiter in eine Grabplatte nicht das geplante Kreuz, sondern ein Schwert einließen. Das Schwert sei ein Symbol, mit dem alle polnischen Herrscher seit dem 12. Jahrhundert zum König geschlagen wurden, empörten sich einige Ukrainer, damit stehe es für das polnische Expansionsstreben.

Jeder Fremdenführer in Lemberg kennt unzählige solcher Histörchen, die bei den meisten Besuchern des Friedhofes heute allenfalls ungläubiges Schmunzeln auslösen. Nadja findet die Geschichten eher langweilig. Erst als der Fremdenführer zum Schluss noch von Jurek Bitschan erzählt, wird sie hellhörig. „14 Jahre war er erst alt, als er gestorben ist?“ fragt Nadja sichtlich verstört ihre Mutter. Die nickt. „So alt wie mein Bruder Pawel“, sagt Nadja und überlegt kurz. „Gut, dass es keinen Krieg mehr gibt.“

Knut Krohn

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