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Brandenburg: Geschichte ohne Ende

15 Jahre nachdem Tausende von Demonstranten die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg erstürmten, strömten am Sonnabend mehr als 4000 Menschen zum Tag der offenen Tür auf das Gelände

15 Jahre nachdem Tausende von Demonstranten die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg erstürmten, strömten am Sonnabend mehr als 4000 Menschen zum Tag der offenen Tür auf das Gelände Von Marion Hartig Berlin - Peter Hussock will die Stasi nicht Geschichte sein lassen. Er hat die Tür von seinem Büro zum Flur mit der Ausstellung weit geöffnet und ruft die Vorübergehenden zu sich herein. In den Regalen rechts ist die Häftlingsbibliothek aus Pankow untergebracht, links die aus Rummelsburg, erklärt er immer wieder. Belletristik, Geschichte, Sprachen. Viel Marx, aber auch Goethe, Kafka und Max Frisch. Die Ausleihkärtchen liegen vergilbt unter dem Buchdeckel. 26mal seit 1984 haben Inhaftierte Neruda ausgeliehen, 13mal Kafka. 60 000 Bücher hat das Archiv insgesamt gesammelt. Hussock wünscht sich Wissenschaftler, die den Bestand archivieren und erforschen. „Sie könnten etwas über die Stasi-Haftbedingungen herausbekommen“, ist er sicher. Gefangene haben in den Büchern Notizen hinterlassen. Für ihn selbst mag das Thema allerdings weniger Neues bringen. Der Mitarbeiter der Hilfsorganisation für Opfer politischer Gewalt „Help“ hat selbst zwei Jahre gesessen, wegen Republikflucht und Beihilfe. Es ist Tag der offenen Tür in der Stasi-Zentrale in der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg, 15 Jahre nachdem Tausende von Demonstranten das Gelände des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), dass inzwischen in Amt für nationale Sicherheit umbenannt war, erstürmten. Sie strömten damals vorwiegend in Kantine und Wirtschaftstrakt, warfen Akten aus den Fenstern – während an anderer Stelle wichtige Dokumente von Stasi-Mitarbeitern aus dem Haus geschafft worden sein sollen. 18 000 hauptamtliche Mitarbeiter, ein Fünftel des gesamten MfS-Personals, waren auf dem Gelände beschäftigt. An diesem Tag berichten Ausstellungen über Gegner des Regimes und Repressalien der Stasi, Filme dokumentieren die Zeit nach der Wende, Zeitzeugen erzählen. Mehr als 4000 Besucher drängen sich auf dem Gelände. Am Abend, als der ausgebürgerte Wolf Biermann auftritt, müssen sogar Konzertbesucher vor der Tür abgewiesen werden, der Raum ist überfüllt. Das Interesse ist groß, die Stimmung fast unheimlich: In den Gängen und Zimmern der Stasi-Leitstelle wird geflüstert, so als könnten sonst die in den Glasvitrinen ausgestellten Miniaturwanzen wieder anspringen und die Überwachung aufnehmen. „Wir sind überall“ steht auf einem Plakat zu einer Schau, in der versteckte Kameras und Abhörgeräte gezeigt werden. Ein Fotoapparat in einer ledereingefassten Zigarettenschachtel, in einer Füllfederhalter-Imitation, hinter einem Knopfloch, in einem rostigen Fass, einem Baumstumpf, einer Gießkanne. 007 von nebenan, das berührt. Bespitzelung eines Volkes. In dem Archiv der Zentrale lagern fünf Millionen Personenkarten mit Namen von Menschen, die für den Geheimdienst interessant waren, fast eine Million Fotos und 90 000 Film- und Tonaufnahmen. Die gesammelten Akten füllen 80 000 Regalmeter, einer Strecke von Berlin bis an die polnische Grenze. Eine Menschenschlange in der zweiten Etage. Besucher schieben sich durch die Zimmer des Stasi-Ministers Erich Mielke, von hier aus wurden die Fäden des Geheimdienstes gezogen. Holzvertäfelte Wände, große Schreibtische, Telefonanlagen. Rote Teppiche, blaue Sessel. Ganz hinten, im „Individualbereich“, ein braunes Bettsofa, ein Fernseher. Ohne die Kordel, die den Rundgang kennzeichnet, könnte man meinen, dass die Räume noch bewohnt sind. Grüne Pflanzen stehen auf Regalen. Vor den Fenstern hängen helle Gardinen. „Schweinehunde“ sagt eine Frau, als sie sich Plakate im Flur ansieht: „Ein neues Kapitel deutscher Geschichte wird aufgeschlagen“ steht in großen Lettern über einem Artikel aus dem Neuen Deutschland von 1949. „Wir müssen unsere DDR vor Angriffen schützen“ wird Erich Honecker zitiert. „Es ist alles viel schlimmer, als man sich das so vorgestellt hat“, sagt ein Berliner aus Charlottenburg, nachdem er sich umgesehen hat. Seit 15 Jahren verfolgt er die Geschichte der Stasi im Fernsehen. Er selbst hat Glück gehabt. Er ist leer ausgegangen. Bei seinem Antrag auf Akteneinsicht kam heraus, das er bei der Stasi nicht registriert ist.

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