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Kultur: Das begehbare Ich

Rita Kupfers Figurengedichte GRENZEN in der Stadt- und Landesbibliothek

Rita Kupfers Figurengedichte GRENZEN in der Stadt- und Landesbibliothek Die Entdeckung eines doppelten Etikettenschwindels stand zu Beginn der Ausstellungseröffnung „Grenzen – im Zickzack über die ehemalige Zonengrenze" am Mittwoch in der Stadt- und Landesbibliothek. Schwindel Nummer eins: In notorischer Vollmundigkeit waren Werke der aus dem Frankenland stammenden Lyrikerin Rita Kupfer angekündigt, die sich „15 Jahre nach Öffnung der innerdeutschen Grenze“ „kritisch und kreativ mit der Problematik des Zusammenlebens der Ost- und Westdeutschen“ auseinandersetzen sollten, „das bis heute ein Thema geblieben ist“. Für alle, die einen gewissen Überdruss über eine weitere Abarbeitung der ewig gleichen Klischees verspürten, sorgten die 23 auf Din A 1 großkopierten wenigwortigen Gedichte für eine freudige Überraschung. Sie thematisieren so wenig oder so viel die Wiedervereinigung, wie die Suren des Koran oder Shakespeares Sonette, freilich auf einem erheblich sanfteren Niveau. Hier geht es um das Weibliche und Empfindsame, häufig also das allgemein Menschliche des Ichs. „Die Beschäftigung mit sich selbst ist die Voraussetzung, sich mit anderen zu beschäftigen", weiß Rita Kupfer dieses Allesverbindende zu umschreiben. Es ist ein sensibles und verdichtetes Ich, das man übrigens auch, ohne die „ehemalige Zonengrenze“ mehrfach überschritten zu haben, wie es Rita Kupfer anscheinend mit ihrer Ausstellung praktizierte, bereits sehr gut kannte, hier „jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs“. Schwindel Nummer zwei schließt sich daran an: Die Gedichte, in Plakatgröße zusammengestellt, wären als „begehbares Buch“ gestaltet, hieß es. Die nüchternen, altgedienten Ausstellungstafeln, die dort im ersten Stock der Bibliothek neben dem Lesecafé aufgereiht sind, mit einem solchen die Fantasie einigermaßen stimulierenden Titel zu versehen, ist ein charmanter Euphemismus des Mangels. Wäre dann nicht jede Wandzeitung der Arbeiterkollektive auch ein „begehbares Buch“ gewesen? Zur Lesung hatte der Frauenstammtisch, in dessen Rahmen die Vernissage stattfand, an vier Bistrotischen Platz genommen, während zwei Mädchen sich mit ihren Violinen zaghaft an Vivaldi maßen. Die fränkische Herkunft von Rita Kupfer brachte eine für das hiesige Ohr ungewohnte Eigenart ihrer Aussprache hervor, das am Gaumen mehrfach gerollte „rrrr". So kam es, dass diesem Buchstaben während ihres Vortrages eine herausragende Bedeutung beizumessen war, wie in „Grenzen III", dem Lieblingsgedicht der Künstlerin: „Der Raum der mir gebührt/ ist der Raum den ich mir nehme./ Und die Falterin breitet ihre seidigen Flügel aus/ und schwebt/ ihren Fühlern vertrauend/ weit hinweg/über alle Grenzen/ niemals anstoßend.“ Dieses Gedicht, wie ein großer Teil ihrer ausgestellten Werke, ist auf dem Plakat spiegelsymmetrisch ausgedruckt, also ein Figurengedicht. Nicht in allen Fällen unterstreicht die typographische Anordnung, wie im Beispiel von „Haß“, das die Form eines Dolches besitzt, die Aussage des Wortes. Eher unbewusst fühlte sich Rita Kupfer schon immer zur Achsensymmetrie hingezogen, für sie ist das Gedicht ein – oft weiblicher – Körper. Kupfers Poems sind, wahrhaft spiegelbildlich zu ihrem Weg zu einer schreibenden Frau, der Beginn einer Auseinandersetzung mit dem Wort. Daher das Herantasten an das Offenkundige: Der Satz „Ich fühle mich“ wird variiert, in Form gebracht, weil das Ich wissen will, wieviel Platz es in Besitz nehmen kann, und das im wahrsten Sinne des Wortes auch auf dem bedruckten Papier. In dieser Unmittelbarkeit liegt die Stärke der Ausstellung und der Gewinn des Betrachters. Bis zum 6. November wird sie zu sehen sein. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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