zum Hauptinhalt

Kultur: Eiskalte Welt

Amok in der Schule: Premiere von „Der Junge, der unsichtbar wurde“ im T-Werk

Deutschland war geschockt, als sich Robert Steinhäuser im Jahr 2002 die Maske überstülpte und in seiner ehemaligen Schule Amok lief. Sechzehn Menschen starben und schließlich brachte Steinhäuser sich selbst um. Das Theater Havarie nimmt dieses Ereignis zum Anlass, mit dem Stück des Dänen Michael Ramløse „Der Junge, der unsichtbar wurde“ nach Gründen für ein solches Verhalten zu suchen. Am Freitagabend hatte das einstündige Werk in der Regie von Ingrid Ollrogge im voll besetzten T-Werk Premiere und die vielen Jugendlichen, die danach kapuzenbeschirmt zum Gespräch bereit waren, empfanden offensichtlich eigene Ängste und Empfindungen glaubwürdig gespiegelt.

Eiseskälte liegt immer über der Familie: sie sehen sich nicht, sie lieben sich nicht, sie reden aneinander vorbei, selbst wenn sie im gleichen Zimmer sitzen. Auf dem Sofa die Eltern: Mutter (Mareike Jaeger) im adretten Kostümchen, das ihr im Büro wie zuhause die unpersönliche Daseinsform ermöglicht und Vater (Thorsten Junge) mit hängender Krawatte, fordernd-poltriger Stimme und interessiert-desinteressiertem Blick. Die beiden Eheleute sind sich spinnefeind und nur einig darüber, dass ihr Junge „ganz gewöhnlich“ ist, nichts Besonderes eben. Einig auch darin, dass sie immer etwas Wichtigeres zu tun haben, als sich mit Martin (Vlad Chirirac) zu beschäftigen, der ja eigentlich alles hat: Computer, eigenes Zimmer, eigenes alles. Aber vor allem hat er eins: eine vollkommene Isolation, die nicht nur zuhause, sondern auch in der Schule anhält.

Irgendwann wird Martin von seinen Eltern einfach nur noch übersehen. Da kann er winken, seine linkisch zusammengehaltenen Beine noch kreuzweiser stellen, seine Mütze abnehmen oder aufsetzen, er kann lachen oder weinen, schreien, toben oder stampfen oder auch den direkten Dialog suchen, nichts hilft ihm, die unsichtbare Wand zu durchschreiten. Man bemerkt ihn erst, als er schießt. „Seht Ihr mich jetzt?“ fragt er am Ende, bevor das Rattern des Maschinengewehrs gnadenlos lärmt.

Obwohl man die ganze Zeit weiß, worauf das Stück hinausläuft, ist man doch erschrocken. Absurd spitzfindig die Szene, in der die Mutter ihren Sohn an die Hand nimmt, um selbigen bei der Polizei vermisst zu melden. Als Polizist agiert Thorsten Junge ebenso wirkungsvoll wie als Vater, und ebenso ergebnislos, was die mögliche Integration von Martin angeht. Zwar macht er die Mutter darauf aufmerksam, dass der Junge an ihrer Hand genau der ist, den sie vermisst melden will, aber das versteht die Mutter nicht.

Man kann der Mutter nicht vorwerfen, dass sie sich nicht um ihren Sohn kümmert, schließlich geht sie zum Arzt, nachdem der Junge schon lange über Bauchschmerzen klagt. Der Arzt wird ebenfalls von Thorsten Junge gespielt, der vorher aus der Rolle fällt und meldet, dass er sich jetzt doll darauf freue, den Doktor zu mimen. Diese Rollenverletzung quittierten die vielen anwesenden Jugendlichen mit Wohlgefallen, wie sie auch die die Spielszenen unterbrechenden Songs positiv aufnahmen und die Absurdität des Stückes offensichtlich mochten. Das Bühnenbild (Anne Schlaich), machte aus wenig viel: Rollos in bestimmter Weise zugezogen symbolisieren Wohnzimmer, Polizeiwache oder Arztpraxis. Dennoch lässt einen das Stück etwas ratlos zurück: Allein dem Umfeld wird die Schuld am Ausrasten des Jungen gegeben, Eigenverantwortung trägt er in dieser Deutung keine. Selbst wenn Psychologen von „erweitertem Selbstmord“ sprechen, macht es sich das Stück doch ein wenig zu einfach.

Lore Bardens

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false