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Potsdam-Mittelmark: Gehopst, geglitten, geflogen

Derwitz pocht auf sein Recht als Lilienthal-Gemeinde, doch im Westhavelland ist der Flugpionier wichtigster Wirtschaftsfaktor

Derwitz pocht auf sein Recht als Lilienthal-Gemeinde, doch im Westhavelland ist der Flugpionier wichtigster Wirtschaftsfaktor Von Thomas Lähns Werder · Derwitz - Friedhelm Manegold hat das alles schon einmal durch. Noch zu DDR-Zeiten war der Derwitzer Landwirt mit einem Heimatforscher im Nachbardorf Krielow aneinander geraten. Es ging darum, in wessen Gemarkung sich die erste Flugbahn der Welt befindet. Vom Spitzberg, der genau zwischen den beiden Orten liegt, unternahm Otto Lilienthal seine ersten Flugversuche. Schließlich habe man sich jedoch geeinigt und das Andenken an den berühmten Luftfahrt-Pionier zur gemeinsamen Aufgabe erklärt. Seither pflegt der Derwitzer Heimatverein das Derwitz-Krielower Kulturerbe. Doch Derwitz ist nicht der einzige Ort, der von sich sagt, dass hier die ersten Flüge unternommen wurden. Zirka hundert Kilometer nordwestlich, im Landkreis Havelland, liegt die Gemeinde Stölln. Auch hier testete Lilienthal seine Flugapparate und legte mit ihnen beachtliche Strecken zurück. Aber das erst nachdem er über das Krielower Luch flog – und darauf pocht der hiesige Heimatverein. „Man muss schon bei der Wahrheit bleiben“, sagt Vereinsmitglied Klaus Hübner in Richtung des dortigen Lilienthal-Vereins. Um der zu ihrem Recht zu verhelfen, führen die Derwitzer zahlreiche Argumente ins Feld. 1848 im vorpommerschen Anklam geboren, kam Otto Lilienthal in den 60ern nach Berlin und machte als Ingenieur Karriere. Nach dem Kriegsdienst 1870/71 arbeitete er in verschiedenen Maschinenfabriken, bis er 1881 ein eigenes Unternehmen gründete. Nebenher erarbeitete er sich mit Hilfe seines Bruders Gustav die theoretischen Grundlagen des Fluges, indem er Vögel beobachtete und genau studierte – eigens dafür hatte er vier Störche auf seinem Wohngelände in Berlin-Lichterfelde gehalten. 1889 veröffentlichte er das Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Zwei Jahre später wandte Lilienthal das gesammelte Wissen erstmals praktisch an. Der 76-jährige Manegold erinnert sich noch an die Erzählungen seines Vaters, der als vierjähriger Junge dem Berliner Ingenieur bei seiner Ankunft in Derwitz hinterher gelaufen sei. Im Sommer 1891 kam Lilienthal durch verwandtschaftliche Beziehungen mit der Pastorenfamilie in das Dorf. „Das gab damals viel Aufregung, als er mit den Fluggeräten aus dem Zug stieg“, erzählt Hübner. Der Derwitzer Müller Schwach hat den Gast damals beherbergt und ihn bei seinen Versuchen beobachtet. Seine Erinnerungen, die er erst in den 1930ern niederschrieb, berichten von dem unermüdlichen Tatendrang des Pioniers, der sich auch vom Wetter nicht zurückhalten ließ. Oft habe er an seinen Konstruktionen aus Weidenruten und Baumwollstoff improvisieren müssen. So kürzte er, als ein Stück eines Flügels abgebrochen war, mit einem Messer einfach auch auf der anderen Seite. Diese Berichte sind für die Derwitzer die wohl wichtigsten heimatgeschichtlichen Dokumente. Der erste Flug ging über 15 Meter. Weiten von bis zu 25 Metern legte Lilienthal in diesem Sommer noch mit seinem Flugapparat „Derwitz“ (!) zurück und sorgte damit international für Aufsehen. An der Straße zwischen den beiden Dörfern, mitten im Luch, steht heute ein Denkmal und erinnert an den ersten Flieger. 1991, zum hundertjährigen Jubiläum, hatte der Heimatverein 650000 Mark für das Gestell beschafft, an dem eine dem Flugapparat ähnliche Stahlkonstruktion in Originalgröße hängt – eine Leistung, auf die man hier stolz ist. Damals gab es auch eine große 100-Jahr-Feier mit zirka 10000 Gästen, davon erzählt man sich in Derwitz noch heute. Bereits ein Jahr zuvor war im Dorf ein Gedenkstein aufgestellt worden, und 1998 öffnete im alten Gerätehaus der Derwitzer Feuerwehr ein kleines Museum. Hier berichten Manegold, Hübner und die anderen Hobby-Historiker des Heimatvereins ihren Gästen über die weltbewegenden Ereignisse des Sommers 1891. Ihr Wissen schöpfen sie aus Überlieferungen und aus Dokumenten, die ihnen vom Deutschen Museum in München zur Verfügung gestellt wurden. „Oft kommen Schulklassen her, auch Radfahrervereine schauen sich das an“, so Hübner. Auf einem der großformatig ausgestellten Bilder sieht man Lilienthal mit seiner Frau Agnes und der Müllerfamilie Schwach vor deren Derwitzer Anwesen. Andere Fotos zeigen den Pionier in Aktion. Im Gästebuch reihen sich lobende und anerkennende Worte von Touristen und Schülern aneinander. „Es sind keine Scharen, die hier herkommen“, bemerkt Gerd Schönefeld, der dritte im Bunde der Derwitzer Lilienthal-Erben. Aber das wolle man auch nicht, allenfalls im Rahmen eines „sanften Tourismus“. Lilienthal selbst wollte nie, dass seine Errungenschaften groß gefeiert werden, habe mal die Urenkelin seines Bruders Gustav gesagt. Zu der haben die Derwitzer ebenfalls Kontakt, die alte Frau lebt heute in Berlin. Zwei Jahre nach seinem Sommer in Derwitz zog es Lilienthal in das Ländchen Rhinow, eine idyllische Gegend im Nordwesten der Mark. Hier fand er noch höhere Berge, und damit die Voraussetzung für Flüge über weitere Strecken. „Vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug“, war sein Motto. Zwar hatte sich der Flieger in Lichterfelde kurz zuvor einen 15 Meter hohen Sandberg aufschütten lassen, übte auch zeitweilig in einer Kiesgrube in Steglitz, doch nach Stölln kam er immer öfter. Er fand Herberge in einem Gasthof, den es noch heute gibt. „Zum ersten Flieger“ prangt groß über der Eingangstür der Pension in der Otto-Lilienthal-Straße 7. Die Fluggeräte wurden damals ausgefeilter, es entstanden Doppeldecker und Flügelschlagapparate, Steuer- und Lenkvorrichtungen kamen hinzu. Der „Normal-Segelflug-Apparat“ ging sogar in Serienproduktion. Lilienthal legte Strecken von bis zu 500 Metern zurück, erreichte Höhen von bis zu 23 Metern. Am 9. August 1896 verunglückte er schließlich bei einem Sprung vom 96 Meter hohen Gollenberg durch eine Windböe und verstarb einen Tag später in einem Berliner Krankenhaus. In den 1950er Jahren errichteten die Stöllner einen Gedenkstein an der Absturzstelle, die heute mitten in einem Wald liegt. Der Hang des Gollenberges ist seither eine Pilgerstätte für Flugfreunde, und die Gemeinde ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Flugsportvereine und Aeroclubs üben auf dem Gelände hinter dem Dorf, die Kontakte gehen sogar bis nach Amerika. Zum jährlich veranstalteten Lilienthal-Fest kommen bis zu 3000 Besucher. Aber die eigentliche Attraktion thront seit 1989 auf einem Hügel über den Dächern der Gemeinde: Eine ausgemusterte IL 62 dient als Luftfahrt-Museum. Mancher kann sich noch an die spektakulären Fernsehbilder erinnern, als Pilot Dieter Kallbach die Linienmaschine der Interflug auf dem Acker landete. Die „Lady Agnes“, benannt nach Lilienthals Frau, ist auch Standesamt. Bis zu 600 Paare werden hier pro Jahr getraut, 18000 bis 20000 Besucher kommen darüber hinaus zur „Lady“. Davon berichtet Horst Schwenzer, Vorsitzender des Lilienthal-Vereins Stölln. Doch wie kann die Gemeinde damit werben, die erste Flugbahn der Welt zu haben, wo doch die ersten Flugversuche nachweislich in Derwitz stattfanden? „Zum Fliegen gehört eine so genannte Kehre“, erklärt Schwenzer. Man müsse während des Fluges die Richtung ändern, eine Kurve fliegen. „Alles andere nennt man Gleiten.“ Die Kehre sei Lilienthal das erste Mal in Stölln gelungen. Der Streit darüber währe schon lange und habe viele Flug-Experten beschäftigt, sagt er. Dabei wolle der Vereinsvorsitzende aber niemandem das Recht absprechen, sich ebenfalls Lilienthal-Gemeinde zu nennen, gibt er sich sogleich versöhnlich. „Entscheidend ist doch, dass man die Leute davon begeistern kann, Touristen anlockt.“ Und dieses Rezept geht hier auf, Lilienthal ist in Stölln nicht nur Kulturerbe, sondern auch wichtigster Wirtschaftsfaktor. Und dass dieser auf einer Auslegungsfrage basiert, wurmt so manchen Derwitzer. Das soll“s gewesen sein? Nach kurzem „Bohren“ lässt der Stöllner Vereinschef die Bereitschaft zum verspäteten Gegenbesuch durchblicken: „Man muss uns nur einladen.“ Vielleicht kommen die Gemeinden ja sogar auf einen gemeinsamen Nenner: Derwitz und Krielow haben sich schließlich auch geeinigt.

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