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Eine Bekenntnis zu Israel und zum Judentum kann in Berlin gefährlich werden.

© dpa/Christoph Soeder

Jüdisches Leben in Berlin nach dem 7. Oktober: Pflastersteine, Molotow-Cocktails, Beschimpfungen, Angst

Juden in Berlin leben seit dem Terrorangriff der Hamas in Furcht und Unruhe. Nicht bloß Erwachsene leiden, auch Kinder werden zu Opfern gemacht.

Sie variieren, die Rufe, aber immer treffen sie ihr Herz. „Kindermörder“, „Fuck Israel“, diese Art Rufe. Anna Chernyak Segal hört sie regelmäßig, im öffentlichen Nahverkehr, auf der Straße, an beliebigen Orten, sie gehören längst zu ihrem Alltag, diese Rufe.

Anna Chernyak Segal ist Jüdin, Mutter von Kindern im Grundschulalter, Geschäftsführerin des Vereins Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte, Opfer. Sie wird für Israels Politik in Sippenhaft genommen, sie wird wie unzählige andere Juden in Berlin seit dem barbarischen Überfall des Terrorgruppe Hamas angefeindet.

Der aggressive Antisemitismus prägt ihren Alltag. Und er prägt das Leben ihrer Familie und ihrer Gemeinde. Die junge Mutter kleidet inzwischen ihre Kinder so, dass die nicht als Juden erkennbar sind.

Die Kinder erleben ja noch auf ganz andere Weise, dass sie zu unschuldigen Opfern gemacht werden. In ihrer jüdischen Schule fiel monatelang der Sportunterricht aus, monatelang wurden Ausflüge gestrichen. Sicherheitsgründe. Der Sportunterricht fand außerhalb der Schule statt, dort galten die Kinder und Jugendlichen nicht mehr als sicher. „Die Schüler mussten die ganze Zeit in der geschlossenen Einrichtung bleiben“, sagt Anna Chernyak Segal. Inzwischen ist zumindest geordneter Sportunterricht wieder möglich, eine benachbarte Schule stellt ihre Sporthalle zur Verfügung. Da sind die Wege kurz.

Anschlag auf eine Synagoge des Vereins

Die Gewalt kann lebensgefährlich werden. Am 18. Oktober, elf Tage nach dem Überfall der Hamas-Terroristen, flogen zwei Molotow-Cocktails gegen eine Synagoge von Segals Gemeinde. Es gab zum Glück keine Verletzten.

Anfang Mai wurde ein Gemeindemitglied auf offener Straße zusammengeschlagen. „Er hatte Knochenbrüche, er ist emotional enorm mitgenommen“, sagt die Geschäftsführerin.

 Das Selbstbewusstsein der Gemeinde wird dem Schutzbedürfnis geopfert.“

Anna Chernyak Segal., Geschäftsführerin des Vereins  Kahal Adass Jisroel

Einem anderes Mitglied habe man von hinten mit einem Pflasterstein beworfen. „Seit dem 7. Oktober haben wir einen massiven Anstieg von Gewalt erlebt“, sagt Anna Chernyak Segal. Vor kurzem seien Kinder der Gemeinde auf einem öffentlichen Kinderspielplatz von muslimischen Erwachsenen gefilmt worden.

Auslastung der jüdischen Schulen stark zurückgegangen

Das alles führe zu „großer Unruhe und Angst“. Seit dem Anschlag vom 18. Oktober hätten die Menschen Angst, ihre Kinder in die Schulen und die Kita zu schicken. „Zeitweise hat die Auslastung der Einrichtungen nur 20 Prozent betragen“, sagt Anna Chernyak Segal. Oder die Eltern fahren ihre Kinder vermehrt mit dem Auto zur Schule oder zur Kita.

Das alles, sagt die Geschäftsführerin, „führt zu einer Verdrängung aus dem öffentlichen Leben und den öffentlichen Verkehrsmitteln“. Die Gemeinde habe immer zeigen wollen, dass sie ein Teil der Stadt sei. „Aber jetzt wird das Selbstbewusstsein dem Schutzbedürfnis geopfert. Und jetzt müssen wir unseren Mitgliedern sagen, sie sollten sich am besten so kleiden, dass sie als Juden nicht erkennbar sein.“ Anna Chernyak Segal ist fassungslos bei diesem Satz. „Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es mal so weit kommen würde.“

Gemeindemitglieder geben falsche Adressen an

Sie hätte ja auch nie für möglich gehalten, dass Gemeindemitglieder lieber die Adressen der Nachbarn angeben, wenn sie einen Lieferservice beauftragen. Ihre eigene Wohnadresse halten sie geheim. Aus dem gleichen Grund lassen viele Taxis nie vor der eigenen Adresse halten. Aus gutem Grund: Häuser sind schon mit dem Judenstern markiert worden.

Sigmount Königsberg, der Beauftragte gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde Berlin, registriert erschüttert, „dass uns in Berlin geballter Judenhass entgegenschlägt“. Jüdische Studenten würden wegen ihres Glaubens attackiert. Bei den Antisemiten spürt er „Vernichtungsphantasien“. Was er nicht spürt, ist „den Willen, den Staat Israel anzuerkennen“.

Die Zahl der Beratungen von jüdischen Bürgern in Berlin sei seit dem 7. Oktober extrem stark gestiegen. Die Maßnahmen, mit denen sich Juden schützen müssten, die seien ein Zeichen dafür, „dass jüdisches Leben in Berlin keine Selbstverständlichkeit ist“. Antisemiten leugten sogar, dass die Hamas-Schergen israelische Frauen vergewaltigt hätten.

Die social-media-Auftritte werden reduziert

Der Verein Kahal Adass Jisroel reagiert auch bei seinem Social-Media-Auftritt auf die neue Gefährdungslage. Viele Informationen, die früher selbstverständlich veröffentlicht worden sind, werden jetzt zurückgehalten. Zu groß die Angst und die Gefahr, dass Personen, die ansonsten zu sehen gewesen wären, in Gefahr geraten.

Im analogen Leben ist die Angst natürlich noch viel größer. „Viele Menschen meiden inzwischen unsere Einrichtungen“, sagt Anna Chernyak Segal. Mitunter haben sie aber auch gar keine Gelegenheit mehr, überhaupt zu kommen. Der Verein hat aus Sicherheitsgründen schon Veranstaltungen abgesagt.

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