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Atacms-Raketen werden abgefeuert.

© picture alliance / Uncredited/South Korea Defense Ministry/AP/dpa

Ukraine-Invasion, Tag 792: „Charkiw ist unzerbrechlich“ 

Lukaschenko hält Friedensgespräche für möglich, ATACMS-Raketen mit größerer Reichweite für die Ukraine. Der Überblick am Abend.

Gestern berichteten wir in diesem Newsletter über die Stadt Belgorod in Russland, die aufgrund ihrer Nähe zur Ukraine stark in den Krieg hineingezogen worden ist. Heute blicken wir in die andere Richtung, und zwar nach Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine und nur rund 75 Kilometer von Belgorod entfernt. Wie hat sich hier der Alltag seit Kriegsbeginn verändert?

Vergangene Woche reisten Journalisten der „New York Times“ nach Charkiw, um mit Bewohnern, Beamten, Sanitätern und Feuerwehrleuten zu sprechen (Quelle hier).

Charkiw zählte vor dem russischen Angriffskrieg etwa 1,5 Millionen Einwohner. Da die Stadt so nah bei Russland liegt, schlagen Raketen und Bomben hier so gut wie ohne Vorwarnzeit ein. Seit Mitte März hat Russland seine Angriffe auf die Stadt noch einmal verstärkt. Die Stromversorgung ist stark beeinträchtigt. Anfang der Woche stürzte nach einem Angriff der 240 Meter hohe Fernsehturm ein.

Zudem wird Charkiw immer wieder von sogenannten Gleitbomben getroffen. Nach Angaben ukrainischer Beamter sollen in den vergangenen drei Wochen mindestens 15 durch Russland abgefeuert worden sein. Befürchtet wird, dass Charkiw allmählich unbewohnbar gemacht werden soll.

Wie die Angriffe traurigerweise Routine geworden sind, zeigen die Erzählungen von Andrii Dronov. Der 39-Jährige ist der stellvertretende Leiter der Feuerwehr von Charkiw. „Wenn eine Rakete einschlägt, ist innerhalb von drei bis vier Stunden das gesamte Glas weggeräumt und alle zentralen Straßen geräumt.“ Weiter sagt er: „Am Morgen sieht es so aus, als ob nichts passiert wäre und es keine Explosionen gegeben hätte.“

Anna Ivanova ist 19 Jahre alt und wegen des Krieges aus Charkiw nach Finnland geflohen – und doch wieder zurückgekehrt. „Ich verspürte starkes Heimweh“, sagt sie. Kürzlich sei eine Rakete in das Haus der Freundin ihrer Mutter eingeschlagen. Nun wohne die Freundin bei ihrer Mutter. Die Stadt zu verlassen, komme für diese aber nicht infrage. „Charkiw ist unzerbrechlich, obwohl die Menschen sichtlich erschöpft sind“, sagt Ivanova.

Amil Nasirov ist 29 Jahre alt und Sänger einer Band. Nachts höre er die Explosionen, dann schaue er bei Tageslicht, was getroffen wurde. „Und du denkst, es ist in der Nähe, nicht weit von mir, etwa 700 bis 800 Meter entfernt“, sagt er, „und du denkst: ‚Wow, das ist verrückt.‘“ Er habe gerade vor ausverkauftem Publikum die Premiere eines neuen ukrainischen Films besucht. Das Einkaufszentrum, in dem der Film gezeigt wurde, wurde im März 2022 von einem Raketenangriff verwüstet. Wieder aufgebaut und jetzt mit Generatoren betrieben, habe dort geschäftiges Treiben geherrscht.

Abgesehen vom ständigen Luftalarm hätte es sich um jeden Platz in jeder friedlichen europäischen Stadt handeln können, berichten die „New York Times“-Journalisten.„Das Erschreckendste ist, dass sich die Leute daran gewöhnen“, sagt Nasirov.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages im Überblick:

  • Die USA haben der Ukraine Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS mit größerer Reichweite für den Einsatz innerhalb des ukrainischen Staatsgebiets geliefert. „Ich kann bestätigen, dass die Vereinigten Staaten der Ukraine auf direkte Anweisung des Präsidenten ATACMS mit großer Reichweite geliefert haben“, sagte Außenamtssprecher Vedant Patel. Mehr dazu hier.
  • Bei der militärischen Unterstützung der Ukraine sind die EU-Staaten jüngsten Zahlen zufolge bisher nicht in der Lage, die Hilfen aus den USA zu ersetzen. Der Zählung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zufolge haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten seit Kriegsbeginn bis Ende Februar 2024 insgesamt 42 Milliarden Euro an militärischer Hilfe an die Ukraine geleistet, die USA hingegen 43,1 Milliarden Euro.
  • Angesichts der vielen bewaffneten Konflikte rund um die Welt hat Papst Franziskus zu Lösungen am Verhandlungstisch aufgerufen. „Bitte, alle Länder im Krieg: Beendet den Krieg. Bemüht Euch um Verhandlungen. Bemüht Euch um Frieden“, sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche in einem am Mittwochabend ausgestrahlten Interview des US-Fernsehsenders CBS. „Ein ausgehandelter Frieden ist besser als ein Krieg ohne Ende.“
  • Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat Europa mit drastischen Worten zu einer verstärkten Verteidigung aufgerufen. „Es besteht die Gefahr, dass unser Europa sterben könnte“, warnte der Staatschef in einer Grundsatzrede an der Pariser Sorbonne-Universität. Europa stehe an einem Wendepunkt und müsse mehr tun, um mit rasch wieder aufrüstenden globalen Rivalen konkurrieren zu können. Mehr dazu in unserem Newsblog.
  • Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirft Russland vor, eine für Juni geplante internationale Friedenskonferenz in der Schweiz verhindern zu wollen. Vor ukrainischen Diplomaten und ausländischen Botschaftern in Kiew berief sich Selenskyj bei dieser Aussage auf Geheimdienstinformationen.
  • Bei einem russischen Luftangriff auf die zentralukrainische Region Tscherkassy sind nach Angaben der örtlichen Behörden sechs Menschen verletzt worden. Zudem seien wichtige Infrastrukturanlagen beschädigt worden, teilt Regionalgouverneur Ihor Taburez auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Einige Angriffsgeschosse seien von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen worden.
  • Die Ukraine stoppt die Ausgabe von Reisepässen an im Ausland befindliche Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren. In einer Verordnung heißt es, der Versand von Pässen an diplomatische Vertretungen der Ukraine im Ausland werde „nicht mehr praktiziert“. Somit können ukrainische Männer im wehrfähigen Alter ihre Reisepässe künftig nur noch im Land selbst erhalten. Mehr dazu hier.

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