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Pop: Letzte Klagelaute aus dem erkalteten Fegefeuer

Titanentat zum Start: Das Pellegrini Quartett eröffnet das „Musikfest Berlin 2007“

Diese Musik ist wie ein Samtmäntelchen, in das man fröstelnd schlüpft, um es bei nächster Gelegenheit wieder abzustreifen. Diese Musik dringt durch jede Pore und ist doch niemals nachweisbar. Diese Musik spielt auf dem Grund der Ozeane, in galaktischer Ferne, in den Tiefen unserer Eingeweide. Sie trudelt, tändelt, versiegt, singt und sehnt, schweigt und schwelgt, ist immer da und nie. Sie löscht unser Gedächtnis aus, hält die Zeit an. Und raubt uns den Atem durch ihre stille wilde Schönheit. Eine Schönheit, die man einem Komponisten des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt unterstellen würde.

Das „Musikfest Berlin 2007“ beginnt also mit einem Aplomb, einem programmatischen Ausrufezeichen: Morton Feldmans legendäres „String Quartet (II)“ aus den Jahren 1982/83 wird hingebungsvoll, ja geradezu mit der allergrößten Zärtlichkeit gespielt vom italienisch-deutschen Pellegrini-Quartett (Antonio Pellegrini, Thomas Hofer, Fabio Marano, Helmut Menzler).

Eine titanische Leistung, was das menschliche Konzentrationsvermögen, was musikalische Präzision, Intonation und Klanghygiene betrifft: Das Lang-Stück nämlich, mit dem Feldman nicht nur in Sachen Streichquartett einst „alles vom Tisch fegen“ wollte (was ihm zweifellos gelang), hat eine Spieldauer von gut fünfeinhalb Stunden. Ohne Pause.

Fünfeinhalb Stunden beckettsche „Übersetzungs“-Arbeit also und proustsches Reisen, buchstäblich „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, fünfeinhalb Stunden zwischen Schönbergs „entwickelnder Variation“ und Strawinskys konkurrierendem „Repetitions“-Begriff, fünfeinhalb Stunden „von einem Ding zum anderen gehen“ und die „totale Desintegration von schönem Material“ feiern: Feldmans Selbstauskünfte sind so beredt wie gebildet, so fantasievoll wie schlicht, so zitierfähig wie gewiss authentisch und aus dem Herzen gesprochen (sehr lohnend: das im Programmheft abgedruckte Gespräch des Komponisten mit Walter Zimmermann von 1976). Wirklich weiterhelfen aber können sie einem anlässlich dieser eher herbstlichen „Summer’s Night Lounge“ im Radialsystem am Ostbahnhof nicht.

Feldman, der von seinem ästhetischen Unabhängigkeitsstreben her zutiefst überzeugte Amerikaner, der Wolpe- Schüler und radikal Leise unter den Avantgardisten nach 1945: Seine Musik verhält sich in einer Weise autonom, ja abweisend gegen jegliches Gehörtwerden, gegen jede Art der konventionellen Zuhörerschaft, dass es leichtfallen müsste, so glaubt man wenigstens, sich innerlich von ihr (und ihm) zu distanzieren. Dem zweiten Streichquartett etwa liegt ein simples melodisches Muster aus ein paar sanftmütig schrägen Intervallen zugrunde, ein Rufen ins Offene, ein Zagen, welches der Komponist weder kontert noch erstickt, sondern vielmehr wie eine Skulptur im Raum aufstellt und gleichsam „bildhauerisch“ zu bearbeiten beginnt. Musik zum Anfassen, zum Abtasten, zum Umrunden auch, als entdeckte Schuberts mystisches Kreisen und Auf-der-Stelle-Treten hier die Dreidimensionalität.

Das längliche Ab- und wieder Auftauchen jenes Musters indes weckt alles andere als dauerhaft trancehafte Gefühle. Im Gegenteil. Je entschlossener Feldman das Material in zahllosen, oft nur minimalen Varianten zerlegt und abträgt, so lange, bis vom ursprünglichen Gestus nur mehr der Rumpf existiert, desto stärker findet sich das Auditorium mit sich selbst konfrontiert. Kann man in den ersten zwei, drei Stunden noch einem gewissen Weltvergessen huldigen, eine gewisse Innenschau treiben, so drängen im zweiten Teil die körperlichen Befindlichkeiten heftig in den Vordergrund: Wie nur sitzen, wo sich noch aufstützen, wohin sich drehen, wenn vorne nahezu nichts mehr passiert und alle Musik erstarrt, erstirbt, sich mechanistisch-onanistisch an sich selbst festfrisst?

Der Abendländer mag hier an letzte Klagelaute aus einem längst erkalteten Fegefeuer denken oder ans atmosphärische Ächzen und Raunen nach einer atomaren Katastrophe; den Bewohner der neuen Welt vom Format Morton Feldmans interessiert eine derart idealistische Exegese nicht. Die Musik ist die Musik ist die Musik. Nichts sonst und niemandes Vehikel. Das Berliner Publikum nimmt’s mit aufmerksamer Gelassenheit, man geht früh und kommt spät, vermisst die üblichen Honoratioren und Festspiele-Intendanten, räkelt sich, schläft ein bisschen, scharrt mit den Füßen. Und etliche harren tatsächlich aus bis zum bitteren Schluss.

Was dieses Vorspiel über das Musikfest sagt? Nun, ohne Varèse wäre Feldman nach eigener Auskunft nie Komponist geworden, Ives, den Poeten, glaubt er überwunden zu haben – und Debussy war Europäer. Die Symphoniekonzerte der nächsten Tage werden zeigen, was dieser kühne Sprung in die Zukunft des mottogebenden Dreigestirns wert ist.

www.musikfest-berlin.de

Christine Lemke-Matwey

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