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Screenshot aus dem Video von „Rohan“.

© YouTube/Zhadan & Sobaky

Ukrainisches Kriegstagebuch (170): Nimm nicht, was einem Anderen gehört

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

19.9.2023
Man muss kein Filmexperte sein, um in einem Streifen mehr zu sehen als bloß die Handlung selbst. Manchmal genügt es, aufmerksam hinzuschauen, um zusätzliche Dimensionen zu erschließen – nahezu jeder Film kann Einblicke in die Zeit bieten, in der er produziert wurde.

Die sowjetischen Filme der 1920/30er Jahre, gekennzeichnet durch ihr rasantes Tempo und aggressive Schnitttechniken, propagierten den „Neuen Menschen“. Zu ihren Themen gehörten die Industrialisierung und die soziale Transformation des riesigen Landes sowie die rasche Kanonisierung der neuen Helden aus der Zeit der Oktoberrevolution. Der Idealismus dieser Ära erscheint heute naiv, und die sozialistische Utopie hat sich als gescheitert erwiesen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion spiegelt sich in zahlreichen Filmen der 1990er wider – in der Vielzahl neuer Themen, die dank der Aufhebung von Verboten und Zensur auf die Leinwand gebracht werden konnten.

Dutzende ukrainische Filme der vergangenen 32 Jahre dienen als fesselnde Zeitzeugen der Unabhängigkeitsära. Der Beginn des Großen Krieges im Februar 2022 beeinflusste zwar auch die Filmindustrie, jedoch wurde sie davon nicht gelähmt und ist weiterhin aktiv.

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Im vergangenen Jahr feierte unter anderem die Komödie „Luxembourg, Luxembourg“ ihre internationale Kinopremiere. Gestern veröffentlichte ihr 31-jähriger Regisseur Antonio Lukitsch das erste Musikvideo seiner Karriere. Inzwischen haben es über 80.000 YouTube-Nutzer angesehen, was definitiv als großer Erfolg betrachtet werden kann!

Der Song zum Video, das eher wie ein kurzer Film anmutet, stammt von Zhadan & Sobaky. Das Lied heißt „Rohan“ nach der gleichnamigen Siedlung in der Oblast Charkiw. Der Hauptprotagonist, der nicht älter als 13 ist, stammt aus dieser Gegend und jobbt als Pizzalieferant. In der ersten Szene bringt er eine Bestellung zum Friseursalon „Barbie“. Hier sieht man auch Sänger Serhij Zhadan in einer kurzen Gastrolle als Friseur, der die Pizzas entgegennimmt.

Als der Junge aus dem Salon kommt, stellt er entsetzt fest, dass sein Fahrrad gestohlen wurde. Wenige Augenblicke später sieht er den Dieb, der älter und stärker wirkt. Er schlägt den Pizzaboten nieder und hat mit dem Fahrrad ab.

Der Junge telefoniert mit Freund*innen. Als er den Bus zurück in die Stadt nimmt, scheint er einen Plan ausgearbeitet zu haben. Durch das Busfenster erblickt er die durch die russischen Raketen beschädigten Plattenbauten des Charkiwer Bezirks Nordsaltivka, kaum ein Gebäude hat nichts abbekommen. In einer Online-Auktion findet der Junge sein Fahrrad wieder, das zum Verkauf angeboten wird.

Als die zweite Strophe des Songs erklingt, ist die Gang versammelt. Die Freunde des Jungen sind alle etwa 13 bis 14 Jahre alt und wirken ganz und gar nicht wie Superhelden. Aggressiv sind sie nicht – eher cool, ernst und erwachsen. Einer von ihnen ruft die Telefonnummer aus der Anzeige an und verabredet sich mit dem Verkäufer, der sich als der frühere Fahrraddieb herausstellt. Er wird dann in eine Falle gelockt.

In einer Netflix-Produktion hätte der Zuschauer an dieser Stelle vermutlich einen Einblick in die komplexe Biografie des Fahrraddiebs erhalten, und möglicherweise sogar Empathie für ihn empfunden.

Doch das hier ist ein Video von Zhadan & Sobaky, das ist die Ukraine im Jahr 2023. In der abschließenden Szene wird der Typ, der größer und stärker ist als seine jungen Gegner, lang und brutal geschlagen. Zum Schluss bleibt auf dem Bildschirm nur ein Satz, während die Band den Refrain singt: „Nimm nicht, was einem Anderen gehört, sonst kriegst du auf die Fresse (Volksweisheit)“. Ich möchte hoffen, dass alle Bürger*innen des Nachbarlandes sich dieses Video ansehen.

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