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Kultur: Am Galgenberg

Das Theater Tineola bei den KinderKulturTagen

„Zwei Trichter wandeln durch die Nacht. Durch ihres Rumpfs verengten Schacht fließt weißes Mondlicht still und heiter auf ihrem Waldweg und so weiter.“ Dass Christian Morgensterns Gedicht „Die Trichter“ zum Ende hin spitz zuläuft, das konnten die Zuschauer gestern im T-Werk nicht sehen. Während des Gastspiels des Prager Theaters Tineola nahm der gesprochene Vers dennoch Gestalt an. Michaela Bartnonvá und Ralf Lücke schickten zwei Trichter, den einen auf Beinen, den anderen auf Rädern, leibhaftig durch die Nacht. Zuerst unsicher umherirrend, Morgensternsches Kauderwelsch plappernd, marschierten sie mit der Zeit immer forscher ihrem Ziele zu, dem Galgenberg. Unterwegs begegneten ihnen allerlei seltsame Gestalten: die wuselnde Kartoffelmaus, der Rabe Ralf und das radelnde Zapfenschwein. Sie alle sind den berühmten Galgenliedern entsprungen und fanden sich nun als fantasievoll geschnitztes Holzgetier im Figurenstück „Morgenstern & Abendstern“ wieder.

Das Theater Tineola hat nicht versucht, aus Morgensterns heiter-grotesken Gedichten eine Geschichte zu konstruieren. Vielmehr schaut sich ihr Stück wie gespielte Poesie, wie ein Buch lebendig gewordener Illustrationen an, die durch den pointierten Einsatz klangtypischen Instrumentariums auch Stimme und Temperament erhielten. So kroch mit tiefem Bläserton ein Schneck heran, in dessen Haus sich zwei neuvermählte Maulwürfe eingenistet hatten und fortwährend auf den Mund küssten. Man kennt die beiden aus dem Mitternachtsgedicht vom Zwölf-Elf, der zur Geisterstunde auch tatsächlich erschien, groß wie ein Mensch mit hölzerner Uhr im weit geöffneten Schlund. „Ganz leise heult der Schluchtenhund...“

Die Kinder waren sichtlich erleichtert, als der Mitternachtsspuk vorüber war und der Mond, der die beiden Trichter auf ihrer nächtlichen Reise silberstrahlend begleitet hatte, langsam seinem Untergang zusteuerte. Im Morgengrauen tauchten drei Frösche aus dem Bühnengrund auf und quakten so etwas ähnliches wie „Fischers Nachtgesang“. Vögel begannen ihr Weckmanöver und aus dem sich verabschiedenden Mondgesicht purzelte – man musste genau hinsehen – ein Wollknäuel heraus: das Mondschaf, das zu sich spricht in seinem Traum: „Ich bin des Weltalls dunkler Raum“. Für Erwachsene wunderbar absurd und für Kinder (ab 4 Jahren) eine poetische Anregung, Dinge und Worte, die sie zu kennen glauben, immer wieder neu zu kombinieren und sich auf diese Weise das zu erhalten, was wir Fantasie nennen. Antje Horn-Conrad

T-Werk, Do 1.6., 10 Uhr

Antje Horn-Conrad

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