zum Hauptinhalt

Kultur: Meisterhaft

Ulrich Noethen las aus „Krieg und Frieden“

Nicht viele der knapp 100 Gäste hatten Leo Tolstois Klassiker „Krieg und Frieden“ selbst schon gelesen. Der bekannte Schauspieler Ulrich Noethen, der am Samstagabend in der Druckerei Rüss Textpassagen aus diesem Werk präsentierte, hatte zuvor kurz in die Runde gefragt und blickte kaum überrascht auf die recht überschaubaren Handzeichen. Das sei meistens so. Andererseits habe er aber auch schon Leute getroffen, die gerade nach der Lektüre das Buch sogar noch ein zweites Mal in Angriff genommen hätten. Das hingegen mochte da schon erstaunlicher klingen.

Tatsächlich erfordert Tolstois Epos beim Leser nicht nur eine wahre Engelsgeduld. „Krieg und Frieden“, ein vierbändiger 2000-Seiten-Wälzer, der über ein geradezu unüberschaubares Personal, jedoch über keine stringente Haupthandlung, geschweige denn über eine Zentralgestalt verfügt, ist kein Roman, sondern als Buch eine Mischform aus Vielem. Eine Familienchronik, ein Porträt des russischen Adels am Anfang des 19. Jahrhunderts, ein opulentes Geschichtsbild, darin sich die kulturhistorischen Auseinandersetzungen dieser Zeit ebenso widerspiegeln wie militärtheoretische und geschichtsphilosophische Betrachtungen des Autors miteingeflossen sind.

Noethen zitiert hier einen Zeitungsartikel, den Tolstoi 1864 verfasst und seinem Werk vorangestellt hat. Denn der Schauspieler mit dem grauen Jackett und der hohen Stirn möchte dem gerecht werden, indem er an diesem Abend den Blick exemplarisch auf das untrennbare Gegensatzpaar Krieg und Frieden richtet und dem Publikum zwei entsprechende Textabschnitte gegenüberstellt. Dennoch sei ihm die Wahl nicht leichtgefallen, so Noethen. Theoretisch und gewaltig rollen sich einerseits Tolstois Gedanken zum Menschen und seiner Stellung in der Geschichte ab. Zu Beginn des dritten Bandes kreisen da also die Gedanken um Napoleons Russlandfeldzug 1812, um Kriegsursachen und Zusammenhänge, die immer als Geflecht wirken und nie mit der Vernunft zu erklären sind. Seit Jahrhunderten töteten Menschenscharen ihresgleichen. Während Noethen dieses sachliche philosophische Sinnieren allein durch ein recht lebendiges, von kurzen akzentuierten Pausen unterbrochenes Lesetempo vermittelt, zeigt sich die Wandlungsfähigkeit dieses begnadeten Vorlesers doch erst im anderen, dem erzählerischen Teil, der dem Ende des zweiten Bandes entnommen ist.

Es ist hier eine breite Episode, in der die schöne, bereits verlobte Natáscha Rostówa in einem Moskauer Theater dem ungestümen Werben des Fürsten Anatól Kurágin zu erliegen scheint, ohne dessen Hinterlist zu ahnen. Eine bunte, figurenreiche Szene. Damen in Ballkleidern, Herren in Paradeuniformen. Wie Noethen hier die über allem thronende Erzählerstimme spricht und innerhalb der Dialogpartien von einem Charakter zum nächsten springt und dabei, scheinbar mühelos und ohne eine Spur pathetisch zu wirken, die unterschiedlichen Redeparts zu interpretieren versteht – sei es mit weichen Konsonanten unterlegt, dann wieder klar, empört entschlossen oder gleich darauf mit einem zittrigen Nuscheln bedeckt –, das ist meisterhaft und wirklich beeindruckend! Dank solch spielerisch virtuoser Vorlesekunst gewinnt das an diesem Abend dargebotene Stück Weltliteratur leicht eine neue Note hinzu, eine Qualität, die sich als Sogwirkung bemerkbar macht. Fast zwei Stunden lang konnte und wollte sich ihr keiner der anschließend rege und herzlich applaudierenden Gäste entziehen. Daniel Flügel

Das Video wurde uns freundlicherweise von PotsdamTV zur Verfügung gestellt.

Daniel Flügel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false