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Judenhass nimmt im postkolonialen Denken wenig Raum ein.

© dpa/Annette Riedl

Mehr Gewalt, weniger Hemmungen: Antisemitische Vorfälle in Berlin um knapp 50 Prozent gestiegen

Der Antisemitismus in Berlin hat einen neuen Höchststand erreicht. Demnach sei die Zahl der antiisraelischen und antisemitischen Vorfälle 2023 um knapp 50 Prozent gestiegen.

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Berlin ist auf einem neuen Höchststand. Insgesamt 1270 antisemitische Vorkommnisse soll es 2023 in der Hauptstadt gegeben haben, teilte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) mit – ein Anstieg um knapp 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Ausschlaggebend sei hierbei der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel. Seitdem sei der Antisemitismus in Berlin viel präsenter, „bereits bestehende Formen von Antisemitismus haben sich verstetigt und verschärft“, heißt es in dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. 783 der erfassten Vorfälle und somit 61,2 Prozent ereigneten sich demnach in den nur knapp drei Monaten zwischen dem 7. Oktober und dem Jahresende.

Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos, für CDU) bezeichnete die Entwicklung gegenüber dem Tagesspiegel als „höchst besorgniserregend“. Die Gesellschaft müsse dem Antisemitismus, „sei er politisch oder religiös motiviert“, entschieden entgegentreten. Weiter sagte Badenberg: „Jüdinnen und Juden müssen sich auf den Straßen dieser Stadt sicher fühlen und sicher sein. Das zu gewährleisten, ist unsere vornehmste Verpflichtung!“ Die Justiz sei für alle strafrechtlich relevanten Vorfälle „gut aufgestellt.“

„Die Zahlen der RIAS Berlin sprechen eine deutliche Sprache“, sagt Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. „ Eine beständige und systematische Erfassung antisemitischer Vorfälle, so wie es die RIAS macht, ist dringend notwendig. Die jüdische Gemeinschaft in Berlin sieht sich mit den größten Herausforderungen seit der Shoah konfrontiert.“

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Sprunghafter Anstieg an Vorfällen

Ein Großteil dieser Vorfälle seien eindeutig Reaktionen auf das Massaker der Hamas und anderer Terrororganisationen sowie dem darauffolgenden Krieg in Gaza. So kam es im Oktober zu 323 Vorfällen – die höchste Anzahl, die das Projekt seit seinem Bestehen im Jahr 2015 bisher dokumentiert hat. 279 antisemitische Vorfälle waren es im November, 188 im Dezember. In den neun Monaten vor dem Massaker vom 7. Oktober kam es durchschnittlich zu 53 Vorfällen pro Monat, also circa zwei pro Tag. In den vergangenen Jahren waren es ebenfalls durchschnittlich zwei bis drei Vorfälle pro Tag.

Der Antisemitismus in Berlin hat deutlich zugenommen. Schmiereiern wie dieses judenfeindliche Graffiti auf der Rückseite eines Kinos im Berliner Ortsteil Alt-Treptow sind keine Seltenheit.

© Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin

Doch nicht nur quantitativ, auch qualitativ habe sich die Lage seit dem 7. Oktober in Berlin verschärft: Die Gewalt gegen Israelis und Personen jüdischen Glaubens ist gestiegen. 34 Vorfälle wurden registriert, teils auch extreme. So verzeichnete das Projekt beispielsweise einen Angriff auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin-Mitte, das mit Molotowcocktails beworfen wurde. Die Brandsätze verfehlten jedoch ihr Ziel und brannten noch auf dem Gehweg aus. Der Tagesspiegel berichtete. Die gezielte Sachbeschädigung sei laut Bericht von 31 Vorfällen in 2022 auf 52 Vorfälle in 2023 gestiegen.

Mehr körperliche Angriffe

Auch körperliche Angriffe haben deutlich zugenommen: So wurden zum Beispiel drei Personen, die sich auf Hebräisch unterhielten, in der Friedrichstraße von einem Mann beschimpft und angespuckt. In einem anderen Fall wurden zwei hebräische sprechende Menschen in einer Bar von einem unbekannten Mann mit einem Böller beworfen. Es wurden 2023 insgesamt 49 Bedrohungen verzeichnet, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. 2022 waren es noch 24.

Zudem wurden auch vermehrt Vernichtungsfantasien und Drohungen gegen Israel sowie Jüdinnen und Juden in verbaler Form, aber auch als Schmierereien auf Häuserwänden registriert. Die Hemmschwelle sei laut RIAS gesunken. Antisemitismus ist im Stadtbild präsenter geworden.

Gleiches gilt für das Internet: Auch hier werden jüdische Nutzerinnen und Nutzer vermehrt mit solchen Fantasien konfrontiert. So wurde in einem Kommentar auf einer Social-Media-Plattform vom „Tod den Zionisten“ und „diesen Kakerlaken“, die „ausgelöscht“ werden sollen, geschrieben. Diese Art Vorfälle habe sich im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht.

Gesunkenes Sicherheitsgefühl

Durch den Angriff der Hamas und deren Aufruf zu einem weltweiten „Freitag der Al-Aqsa-Flut“, wie der Terrorangriff vom 7. Oktober bezeichnet wurde und der auch Aufforderungen zu Gewalt enthielt, haben bei Jüdinnen und Juden das Vertrauen in die Gesellschaft verloren. Das alltägliche Sicherheitsempfinden wurde stark erschüttert, so RIAS. Jüdische Gemeinden und Institutionen hätten ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft, Privatpersonen ergreifen Maßnahmen zum Selbstschutz.

Denn während vor dem Angriff im Durchschnitt circa zwei antisemitische Vorfälle pro Woche registriert wurden, waren es danach durchschnittlich 14. 2023 waren in 262 Vorfällen 365 jüdische oder israelische Einzelpersonen betroffen. Zum Vergleich:  In 2022 waren es noch 98 Vorfälle und 134 jüdische oder israelische Einzelpersonen gewesen.

Enthemmte Aggression

„Der 7. Oktober war eine Zäsur“, sagt Julia Kopp, Projektleiterin der RIAS Berlin. „Die gravierenden Auswirkungen treffen insbesondere Jüdinnen und Juden und Israelis in ihrem Alltag in Berlin. Besorgniserregend ist, dass sich Antisemitismus zunehmend enthemmter zeigt, verbal, aber auch physisch.“

Personen jüdischen Glaubens müssten sich im Alltag erneut anders verhalten, sprechen auf der Straße seltener hebräisch und überlegen, ob sie eine Kippa tragen oder nicht, heißt es in dem Bericht. Jüdische und israelische Studierende berichten immer wieder, dass sie sich an Berliner Hochschulen nicht länger sicher fühlen. Neben antiisraelischen Versammlungen, pro-palästinensischen Demonstrationen und Schmierereien, sei es vermehrt zu Anfeindungen durch Kommilitonen gekommen. Dies treffe auch auf Kinder zu, die von Mitschülern in den Schulen angegriffen, bedroht und beschimpft wurden.

„Das ist eine Herausforderung für die demokratischen Akteur_innen Berlins – es ist auch ihre Verantwortung, Antisemitismus konsequent zu benennen und sich solidarisch mit den Betroffenen von Antisemitismus zu zeigen“, sagt Kopp. Jüdinnen und Juden sowie Betroffene von Antisemitismus dürften damit nicht allein gelassen werden.

Die Form antisemitischer Aggression war schon vor dem 7. Oktober bekannt und verbreitet. Kollektiv werden Jüdinnen und Juden für die israelische Politik haftbar gemacht, die häufig mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, teilt RIAS mit. Auch Vernichtungsfantasien wurden schon zuvor auf verschiedene Wegen verbreitet. Jedoch habe sich mit dem Angriff laut RIAS die Art des Antisemitismus „vor allem verstetigt, verstärkt und verschärft“. Die Reaktionen zeigen daher laut RIAS auch „das Kontinuierliche des Antisemitismus“.

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