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„Marsch der Millionen Herzen“ in Warschau.

© IMAGO/Jacek Szydlowski/Forum

Polens Vize-Außenminister Prawda: „Die EU ist östlicher geworden“

Sein Land hat die Identität der Europäischen Union verändert, sagt Marek Prawda. Der Diplomat über Polens Platz in Europa, Erwartungen an Deutschland und den neuen Sinn des Zusammenseins.

Vor 20 Jahren trat Polen in die EU bei. Sie waren damals Botschafter in Schweden. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich kann mich an mein Gespräch mit Anna Lindh erinnern, der verstorbenen schwedischen Außenministerin …

… die im September 2003 in einem Stockholmer Kaufhaus getötet wurde …
Das war noch vor dem offiziellen Beitritt. Polen stand kurz vor dem EU-Referendum, und ich war ernsthaft besorgt um die Wahlbeteiligung. Anna Lindh war sehr besonnen. Sie fand diese Legitimation wichtig, damit die Menschen wissen, worauf sie sich einlassen. Sie sagte, in Schweden würden diejenigen Parteien in das EU-Parlament gewählt, die behaupten, das Land am besten vor der EU schützen zu können. Eine lehrreiche Lektion.

Am Ende lag die Wahlbeteiligung bei fast 60 Prozent und übertraf damit alle Erwartungen. Am ersten Mai 2004 wurde Polen EU-Mitglied. Wie war die Stimmung im Land?
Es war ein Tag purer Freude und Euphorie. Polen kehrte in den sicheren Hafen zurück. Wir empfanden den Beitritt als Anker in einer Welt, aus der wir nicht mehr so leicht vertrieben werden können.

77 %
der wahlberechtigten Polen haben 2003 für den EU-Beitritt gestimmt.

Allein durch die schwierige geografische Lage hat es die Geschichte oft nicht gut gemeint mit Polen. 
Wenn die Briten die EU verlassen, stellt sich die Frage der Zugehörigkeit zu Europa nicht. In Polen ist das Herumwerkeln an diesem Anker lebensgefährlich, denn es gibt keine hundertprozentige Garantie, dass wir, wenn wir diesen Anker lösen, nicht in eine unbekannte Richtung abdriften. Es war schon immer ein großer polnischer Traum, einen festen Platz in Europa zu finden. Östlich des Westens oder westlich des Ostens, das heißt nirgendwo. Mit dem Beitritt konnten wir diesen geopolitischen Fatalismus endlich überwinden.

Und heute? Bleibt das Schiff auf Kurs?
Ja, trotz Stürme! Wir sind gut in den Binnenmarkt integriert und haben ein sicheres rechtliches Umfeld. Der Beitrittsprozess reduzierte außerdem erheblich die Kosten der Transformation.

Inwiefern?
Nach der Wende 1989 verfügte Polen über dramatisch geringe Ersparnisse, um nötige Reformen zu finanzieren. Das wird oft vergessen. Doch es geht nicht nur um Transfers, sondern vor allem auch um den Zugang zu Märkten. Das ist der wahre Kern der EU-Mitgliedschaft. Ein Beispiel ist die polnische Bunzlauer Keramik, die 2011 dank des Handelsabkommens zwischen der EU und Südkorea überleben konnte. 

Welche Rolle spielte Polen für Europa?
Polen ist ein großer Absatzmarkt. Davon profitiert die EU. Aber noch wichtiger: Wir haben die Identität der Europäischen Union verändert.

Das müssen Sie erklären.
Die Union ist östlicher geworden. Die europäische Identität beruht auf gegenseitiger Sensibilität. Heute hat die EU verstanden, dass sie die östliche Expertise braucht, um mit Putins Russland fertig zu werden. Das geht ohne Polen nicht.

Noch 2003 kritisierte Frankreichs Präsident Jacques Chirac die östlichen Beitrittskandidaten für ihre Solidaritätserklärung mit den USA im Irakkrieg. Er sagte damals, „sie haben eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten“. Finden die Stimmen aus dem Osten jetzt mehr Gehör?
Selbst die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gab zu, dass der Westen die östlichen Mitglieder nicht mehr auf Distanz halten kann. Die Tragödie in der Ukraine hat uns vor Augen geführt, dass es bei der europäischen Integration nicht nur um Milchquoten geht. Die EU ist mehr als reine Regelfabrik.

Das Weimarer Dreieck ist für Polen unentbehrlich. Europa ist heute eine Schicksalsgemeinschaft.

Marek Prawda, Polens neuer Vize-Außenminister
Neue Geschlossenheit: Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Polens Premier Donald Tusk.

© dpa/Christoph Soeder

Welche Erwartungen hat Polen an Deutschland?
Wir brauchen eine partnerschaftliche Kooperation und müssen das Ausmaß der aktuellen Bedrohungen erkennen.

„Deutschland will, dass Polen schwach bleibt.“ Der Satz wurde zum Mantra der rechtskonservativen PiS-Politik. Zu Recht?
Deutschland verfolgt seine Interessen. Dafür braucht es ein starkes Europa und das kann es mit einem schwachen Polen nicht geben. Insofern ist das eines der größten Widersprüche der PiS-Rhetorik.

Donald Tusk hat bewiesen, dass man auch unfaire Wahlen gewinnen und sich der Welle des Populismus entgegenstellen kann.

Marek Prawda, Polens neuer Vize-Außenminister
Im Herzen Europas. Mit dem EU-Beitritt ging für Polen ein Traum in Erfüllung. Hunderttausende demonstrierten im vergangenen Herbst in Warschau gegen PiS und für Europa.

© IMAGO/Daniel Mroz/Forum

Umgekehrt braucht Polen aber auch ein starkes Deutschland, insbesondere wenn Trump Präsident wird. Aktuell gibt das Land vier Prozent seines BIP für Rüstung aus. Die Deutschen haben Mühe, zwei Prozent zu erreichen. Gibt es auch da Erwartungen?
Die EU muss mehr Verantwortung für die Verteidigung übernehmen, egal, wer Präsident der USA wird. Früher hieß es, die EU dürfe nicht zur Konkurrenz der NATO werden. Man war zurückhaltend. Heute haben wir diesen Luxus nicht mehr. Ohne enge Zusammenarbeit zwischen Polen, Deutschland und Frankreich gibt es keine Lösung des Problems. Die Turbulenzen in der Welt zeigen einen neuen Sinn des Zusammenseins.

Apropos Turbulenzen. Ein Streitpunkt zwischen Warschau und Berlin bleiben die Reparationszahlungen. Die Frage ist für die neue Regierung nicht vom Tisch.
Rein rechtlich ist das Thema geklärt. Wir suchen andere Lösungen der Wiedergutmachung. Zum Beispiel Leistungen für Überlebende des Nationalsozialismus in Polen. Ein wichtiges Thema ist die Sicherheit. Auch in diesem Bereich können wir uns mehr Kooperation vorstellen. Die Sicherheit Polens sei Deutschlands Sicherheit, sagte die Außenministerin Baerbock.

Im Juni findet die Europawahl statt. Welche Themen sind für polnische Wähler:innen entscheidend: die Innenpolitik oder europäische Angelegenheiten?
In den meisten Ländern haben innere Angelegenheiten Vorrang. Es ist nur so, dass es heute in Europa immer weniger Themen gibt, die keinen europäischen Bezug haben. Das Problem der Migration ist ein Beispiel, das viele Sorgen weckt.

Polen kann die Veränderungen in Europa aktiv mitgestalten und Brüssel mit Sauerstoff versorgen.

Marek Prawda, Polens neuer Vize-Außenminister

Können wir mit ähnlichen Ergebnissen rechnen, wie in den vergangenen Parlaments- und Kommunalwahlen
Ich erwarte in der Tat keine großen Überraschungen, obwohl wir bei Europawahlen traditionell eine geringere Wahlbeteiligung haben.

Im Herbst hat Polen einen Kurswechsel geschafft. „Die bösen Zeiten sind vorbei“, sagte Donald Tusk nach dem Wahlsieg. Teilen Sie diesen Optimismus? 
Ich möchte glauben, dass wir uns in einer guten Phase befinden. Polen und Deutsche können gemeinsam viel zur europäischen Gemeinschaft beitragen und denjenigen helfen, die diese Hilfe nötig haben.

Nun versucht Tusk das Land nach acht Jahren der PiS-Regierung aus der Isolation in Europa zu führen. Mit Erfolg?
Polen kann die Veränderungen in Europa aktiv mitgestalten und Brüssel mit Sauerstoff versorgen. Donald Tusk hat bewiesen, dass man auch unfaire Wahlen gewinnen und sich der Welle des Populismus entgegenstellen kann. Diese Erfahrung ist in Europa gerade sehr gefragt.

Könnte das Weimarer Dreieck zum Vehikel für Veränderungen werden?
Das Bündnis ist für Polen unentbehrlich. Wir waren lange ein nützliches Bindeglied in Europa. Aber der Kontinent verändert sein Gesicht. Es geht nicht mehr nur darum, die Gräben zwischen Arm und Reich zu überwinden. Europa ist heute eine Schicksalsgemeinschaft. In dieser Hinsicht sind Polen und Deutsche füreinander unverzichtbar.

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